315 Deutscher Film in Ost und West 1962–1989 CHRISTIANE F. – WIR KINDER VOM BAHNHOF ZOO 1981 | Regie: Ulrich Edel Die Verfilmung des Ende der 1970erJahre auf Basis von Interviews entstandenen Bestsellers über eine jugendliche Heroinabhängige wurde in West-Berlin an Originalschauplätzen wie dem Drogentreffpunkt Bahnhof Zoo realisiert. Der Realismus der Prostitutions- und Entzugsszenen forderte die jugendliche Hauptdarstellerin Natja Brunckhorst und das gesamte Team außerordentlich. | PM BESONDERS WERTVOLL [...] Für angeblich 3,5 Millionen Mark (ein riesiges Budget für deutsche Verhältnisse) hat der nette Herr Edel einen wirklich netten Film gedreht, den auch Frau Minister Huber, die katholische Filmkommission und der FrauenRat aller im Bundestag vertretenen Parteien bedenkenlos empfehlen könnten. Er ist sehr dezent, pädagogisch wertvoll. Und geradezu vorbildlich langweilig. [...] Von dem Milieu der Kinder vom Bahnhof Zoo haben sich der Regisseur Edel und der Drehbuchautor Herman Weigel nicht faszinieren lassen. Ich meine eine andere Faszination als die des lüsternen Spießers, der saftige Details über Heroinabhängigkeit und TeenagerProstitution erwarten mag. Ich meine die Faszination, die diese Kinder erst in die Diskothek »Sound«, an die Nadel, auf den Baby-Strich getrieben haben muß: eine bald fürchterlich enttäuschte Erwartung, in dieser Schattenwelt etwas anderes zu finden als die Monotonie der zerrütteten Kleinfamilienexistenz in den Betonkästen der Gropius-Stadt. Erst wenn diese Neugier, diese Sehnsucht vorgekommen wären, wenn sie in den Bildern des Films aufgesogen wären, hätte man einen ehrlichen Film über die Kinder vom Bahnhof Zoo machen können. [...] Edel war vorsichtig, so vorsichtig, daß er das Leben aus seinem Film getilgt hat. Manchmal merkt man, wie schwer es ihm fällt, sich die Verzweiflung, auch den verzweifelten Lebenshunger der Kinder vorzustellen: am deutlichsten in einem ungeschickt zusammengeschnittenen Konzert von Christianes Idol David Bowie [...]. Da ist nichts zu sehen von der Inbrunst, mit der Christiane diesen Sänger verehrt, nichts zu spüren von der Verheißung, die seine Musik für sie bedeutet. Auch jene Sequenz, die in den ersten Kritiken als die eindrucksvollste gehandelt wird, als grausamer Höhepunkt einer Leidensgeschichte, sieht auf der Leinwand fast indifferent aus: den Krämpfen und Zuckungen der sich im Schmerz der Entziehung windenden Körper von Christiane und Detlef, den fast übermenschlichen Anstrengungen, von der tödlichen Droge aus eigener Kraft freizukommen, folgt die Kamera aus sicherer Entfernung. Eine Verzweiflung wird zur Besichtigung freigegeben, mit dem ungerührten, mitleidlosen Blick, den man in einem Aufklärungsfilm einer Rauschgiftbehörde eher erwarten würde als in einer Geschichte über Menschen. Wenn die Kameraeinstellung eine Frage der Moral ist, scheint Edels Moral die eines Ministerialbeamten zu sein: rechtschaffen, phantasielos, unbeteiligt. Seine filmischen Mittel sehen entsprechend aus. Immer, wenn etwas Entscheidendes im Leben der Christiane F. geschieht (beim Einsteigen ins Auto des ersten »Freiers« etwa), verlangsamt er das Bild auf Zeitlupengeschwindigkeit. Ein dreifaches !!! an die Adresse der Begriffsstutzigen und Unmündigen, für die der Regisseur sein Publikum hält. [...] Ich will nicht ungerecht sein. Niemand wird sich einen Film wünschen, der noch mehr Kinder zum Rauschgift und zur Prostitution treibt. Die heimliche Idolisierung der Figur Christiane F. [...] findet in Ulrich Edels Film immerhin nicht statt. Aber das allein ist zu wenig für 132 Minuten. Hans C. Blumenberg Die Zeit, 3. April 1981
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