Leseprobe

334 Das Versprechen (1994) von Margarethe von Trotta war der erste große Mauerfall-Spielfilm in Deutschland. Er beginnt mit dokumentarischen Bildern, quasi als Erinnerungshilfe: Man sieht Protagonisten des ideologischen OstWest-Konflikts der 1950er- und frühen 1960erJahre, John F. Kennedy, Nikita Chruschtschow, Walter Ulbricht und Willy Brandt, dann Szenen vom Bau der Mauer durch Berlin, dann die Trauer der voneinander getrennten Menschen, dann Fluchtversuche, Blicke »nach drüben«, wehmütiges Winken. Eine der winkenden Hände hält ein weißes Taschentuch, man sieht es ganz nah, das Winken wird verlangsamt und zum Standfoto eingefroren. So gelangt man an eine Schnittstelle: Das Authentische geht in die Fiktion über, eine Liebesgeschichte beginnt, die an der deutsch-deutschen Wirklichkeit scheitert. Ihr Hintergrund sei eines »der merkwürdigsten KEIN NEUSTART, ABER EINE SPANNENDE NEUORIENTIERUNG terschrieben den Aufruf 200 000 Menschen, nach Beendigung der Aktion im Januar 1990 wurden etwa 1,17 Millionen Zustimmungen und 9 273 Ablehnungen gezählt. Auswirkungen hatte dieser Aufruf indes nicht. Nach der Volkskammerwahl im März 1990 sowie dem Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion stimmten am 20. September 1990 sowohl die Volkskammer der DDR als auch der Deutsche Bundestag dem Einigungsvertrag zu, einen Tag später folgte der Bundesrat. Somit war die Übernahme der westlichen Ordnung faktisch beschlossen: Am 3. Oktober 1990 trat die Deutsche Demokratische Republik der Bundesrepublik Deutschland bei. »In der Nacht des Mauerfalls feierte Heiner Carows Schwulen-Drama ›Coming out‹ in Ost-Berlin Premiere«, erinnert sich die Journalistin Christiane Peitz. »In den West-Berliner Kinos am Kurfürstendamm liefen am 9. November 1989 Blockbuster wie ›Batman‹ oder ›Friedhof der Kuscheltiere‹. Von der Premierenfeier zu Carows Film in einer Kneipe in Prenzlauer Berg ist überliefert, dass der in die Gesellschaft hereinplatzende Passant mit der Wahnsinnsneuigkeit ›Die haben die Mauer aufgemacht‹ weniger auf Begeisterung stieß als auf Befremden. Was daran liegen mag, dass mitten im Freudentaumel noch etwas anderes existierte: nicht die Hoffnung auf das schnelle Ende der DDR, sondern auf einen anderen, reformierten sozialistischen Staat. Nicht auf die Wende, sondern den Wandel. Daraus wurde bekanntlich nichts, die Träume der Bürgerrechtler zerplatzten.«4 Die Wiedervereinigung führte zu keinem Neuanfang im deutschen Film – ebenso wenig wie es nach 1945 die oft zitierte »Stunde Null« gab. Besonders im Jahr 1990 bündelte sich das gesellschaftlich wie individuell komplex-komplizierte Wechselspiel zwischen dem Verlust eines vertrauten Lebens und der Perspektive neuer Möglichkeiten. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung entstanden heute oft zu Unrecht vergessene Filme, die ein atmosphärisch vielfältiges DDR-Bild zeichneten. Während man im Osten Deutschlands noch darauf hoffte, dass gesellschaftspolitisch vieles möglich würde, häuften sich zugleich schon düstere Vorahnungen, tiefe Skepsis und resignative Endzeitstimmung: Die letzten Jahre der DDR erschienen als utopische Entgrenzung, durchtränkt vom Wissen um die Vergeblichkeit. Die Schriftstellerin Christa Wolf (1929–2011) brachte mit weiteren Künstler:innen den Aufruf Für unser Land auf den Weg, der am 28. November 1989 in Ost-Berlin öffentlich gemacht wurde. Die Beteiligten formulierten ihre Befürchtung einer politischen und wirtschaftlichen Vereinnahmung der DDR und sprachen sich gegen eine Wiedervereinigung beziehungsweise die ursprünglich geplante Konföderation der DDR mit der Bundesrepublik Deutschland aus. Im Aufruf heißt es: »Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind.«3 Binnen zwei Wochen unExperimente der Geschichte«, heißt es, bei dem bald nur noch die Illusion aufrechterhalten würde, »dass nur eine Mauer die Deutschen trennte«. Das Versprechen feierte Premiere auf der Berlinale – und fiel bei Kritik und Publikum krachend durch. Offenbar war man einige Jahre nach der Wiedervereinigung nicht länger bereit, sich freudetrunken in den Armen zu liegen. Angesichts zeitgenössischer Stasi-Debatten, der Treuhand-Jahre, der einsetzenden Massenarbeitslosigkeit, der Debatte über die Kolonisierung des Ostens sowie »Bürger zweiter Klasse« herrschte keine Euphorie mehr. Margarethe von Trotta war mit ihrem Film bemüht, die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte als eine Geschichte der Gefühle zu erzählen. Ihr ging es nicht darum, Geschichte zu »bewältigen«, sondern sie vielmehr in der Durchdringung von offiziellen und privaten Im Juni 1990, sieben Monate nach dem Mauerfall und vier Monate vor der Wiedervereinigung, wurde einer der letzten DEFA-Filme uraufgeführt: Die Architekten von Peter Kahane. Erzählt wird vom Alltag und Seelenzustand jüngerer Intellektueller in der DDR, die darauf hoffen, einen selbstbestimmten Platz im Gesamtgefüge der realsozialistischen Gesellschaft zu finden. »Doch die Architektengruppe, an die der Auftrag herangetragen worden war, eine neue Stadtteilsiedlung zu konzipieren, scheiterte sowohl an materiellen Zwängen als auch an den Eingriffen ihrer auf eingefahrenen Gleisen denkenden und handelnden Vorgesetzten. Dieses Scheitern stand im Film über den konkreten Fall hinaus als Metapher für den Verlust von Hoffnungen und Illusionen nicht nur junger DDRBürgerinnen und -Bürger. Nie zuvor hatte es eine DEFA-Produktion gewagt, die Agonie der Gesellschaft, das Verschwinden der Utopie in starren Strukturen so eindringlich vor Augen zu führen wie hier.«5 Ereignissen sinnlich nachvollziehbar zu machen. Dabei wandelte sie auf einem schmalen Grat, der ihrem Film den Vorwurf einbrachte, eine »Sammlung bequemer Klischees«1 zu sein: »Die DDR erlebte ihre filmische Reinkarnation als ein dunkles, graues Land ohne Freude, in dem rund um die Uhr geknechtet und bespitzelt wurde. Folgerichtig tritt in den Szenen vom Mauerfall eine namenlose Ostdeutsche (Barbara Dittus) mit dem Satz auf, sie sei dreißig Jahre in einen Käfig gesperrt gewesen und nun nicht mehr imstande zu fliegen. Solche Sentenzen spiegelten nicht nur westliche Mitleidsgefühle, sondern unterschwellig auch ein Missbehagen über die neu in der Bundesrepublik angekommenen Deutschen, denen nun erst einmal das Fliegen, ergo das ›richtige‹ Verhalten in Demokratie und Freiheit, beigebracht werden muss.«2

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