336 »ES WIRD GELEBT UND GESTORBEN, UND ES IST IMMER NOCH SOMMER IN BERLIN« von poetischem Realismus, dem es zudem gelingt, präzise Bilder vom deutschen Alltag zu zeichnen, in dem Momente instinktiver Solidarität gegen den Zerfall des Sozialen stehen. Dresen findet dafür die Formulierung, dass ›Sommer vorm Balkon‹ den ›Übergang vom Sozialstaat zum Individualstaat beschreibe.«9 Dresen, geboren 1963 in Gera, steht neben weiteren in Ostdeutschland geborenen Filmemachern wie Andreas Kleinert oder Jens Becker tatsächlich für einen gewissen Neubeginn. Derweil verschwanden viele ältere, renommierte Filmschaffende von der Bildfläche, während andere – mitunter unter Wert – fürs Fernsehen arbeiteten oder resignierten. Zu den Ostdeutschen, die nach der Wiedervereinigung durchstarteten, gehören etliche Schauspieler:innen: Jan Josef Liefers, Anna Loos, Claudia Michelsen, Cornelia Gröschel, Martin Brambach, Anja Kling und Gerit Kling, Yvonne Catterfeld, Sandra Hüller, Corinna Harfouch, Simone Thomalla, Sven Martinek, Charly Hübner, Devid Striesow, Matthias Schweighöfer, Karoline Herfurth, Tom Schilling, Alexander Fehling, Friedrich Mücke, Nora Tschirner, Jördis Triebel, Ronald Zehrfeld, Fritzi Haberlandt, Milan Peschel, Michael Gwisdek, Peter Kurth, Dagmar Manzel – die unvollständige Auflistung liest sich als Who’s who gegenwärtiger Darstellungskunst. »Nach der Wende wurden viele handwerklich sehr gut ausgebildete Ostschauspieler zu extrem niedrigen Gagen eingekauft, einfach weil sie überhaupt keine Ahnung vom westdeutschen Filmmarkt hatten«,10 erinnert sich die in der DDR geborene Künstleragentin und Managerin Ute Bergien. »Das war für viele derjenigen, die heute prominent sind, ein Einstiegsgarant, ohne den so manche Karriere anders verlaufen wäre.«11 Der im thüringischen Ruhla geborene Schauspieler Thorsten Merten, der u.a. in mit den Filmen Halbe Treppe und Halt auf freier Strecke (2011) von Andreas Dresen Bekanntheit erlangte, relativiert: »Ähnlich wie die Grundbücher von Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain in Berlin sind auch die Häuptlingsposten der Filmwirtschaft überwiegend in westdeutscher Hand. [...] Das Gros der ausgebildeten Mimen schafft es aber meistens kaum, mit der Schauspielerei die Miete zu verdienen. Und das ist die eigentliche Scheiße.«12 Seitdem gehören deutsch-deutsche Sujets zum festen Repertoire, auch in Kinderfilmen wie Sputnik (2013, Markus Dietrich) und Fritzi. Eine Wendewundergeschichte (2019, Ralf Kukula/Matthias Bruhn). Leuchttürme, die mit thematischer Ambition und künstlerischer Qualität ein großes Publikum erreichten, gab es vergleichsweise wenige, zu ihnen gehört die Stasi-Tragödie Das Leben der Anderen (2006) von Florian Henckel von Donnersmarck. Der Film über Künstler:innen der Ost-Berliner Theaterszene, die sich Mitte der 1980er-Jahre zwischen Anpassung, innerer Emigration, Flucht in den Westen und Suizid bewegen, fand international Beachtung und erhielt u.a. den Oscar als bester fremdsprachiger Film. Intensität erzielt er vor allem dank Ulrich Mühe als linientreuer Stasi-Hauptmann Wiesler, der als Spitzel in die Welt der Observierten eindringt, sie beeinflusst und zugleich sich selbst verändert: Angesichts der Gespräche um Liebe, Literatur, freies Denken und freies Reden, die er heimlich belauscht, wird er sich der eigenen Defizite in seinem Leben bewusst. In zeitlicher Nähe von Das Leben der Anderen startete die federleicht erzählte Komödie Sommer vorm Balkon (2005) von Andreas Dresen. Beide Filme stehen antipodisch zueinander und zeigen die »neuen« Erzählmöglichkeiten. Ohne die Themen DDR und Wiedervereinigung explizit anzusprechen, handelt auch Sommer vorm Balkon von unsicheren Verhältnissen, wobei ein schmaler Balkon im sommerlichen Berlin zum Rückzugsort wird. So unaufgeregt wie sensibel kommentierte Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase (1931–2022) die Handlung: »Jeder braucht einen anderen, wenn der Mond auf die Stadt scheint. Es wird gelebt und gestorben, und es ist immer noch Sommer in Berlin.«8 Nachdem Andreas Dresen zuvor mit Filmen wie Nachtgestalten (1999), Die Polizistin (2000), Halbe Treppe (2002) und Willenbrock (2005) auf sich aufmerksam machte, etablierte er sich mit Sommer vorm Balkon als einer der wichtigsten deutschen Gegenwartsfilmemacher. »Vom Alltag dreier Generationen erzählt Dresen mit einem warmen Humor, ohne jedoch dabei auftretende Krisen und Konflikte mit der gebotenen Ernsthaftigkeit zu unterspielen. Diese schwerelose Balance zwischen Komödie und Tragödie verschafft dem Film einen Hauch Filmplakat zu Sommer vorm Balkon, 2005 von Lichtrausch GmbH/ Darius Ghanai
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