Leseprobe

337 Neuorientierung 1990 – 2023 ÜBER DIE GEGENWÄRTIGKEIT DER GESCHICHTE Lola rennt (1998) auf sich aufmerksam machte. Nach Filmen wie Der Krieger und die Kaiserin (2000), Heaven (2002) oder Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders (2006) beschritt Tykwer parallel zum Autorenkino neue Wege zum attraktiven »Großkino«, reüssierte international und setzte mit Babylon Berlin (seit 2017) entscheidende Akzente im Serienformat. Dabei begibt er sich stets neu auf die Suche nach dem Geheimnis sowie den Prinzipien des Schicksals, das Menschen zusammenbringt und ihrem Leben jene entscheidende Wende gibt, die da Liebe heißt. Auf nicht weniger intensive Art und Weise betreibt Oskar Roehler seine zwischen privater Verzweiflung und gesellschaftlicher Orientierungslosigkeit changierenden Weltbeschreibungen. Vor allem Die Unberührbare (2000) über die tiefe innere Zerrissenheit der Schriftstellerin Gisela Elsner, Roehlers Mutter, wurde dabei zum bedeutenden Beitrag zur deutschen Einheit im Film. Auch im Westen geborene Filmemacher:innen setzten sich mit der Wiedervereinigung auseinander, darunter Dominik Graf, dessen umfangreiches Schaffen sowohl in Kino- als auch Fernsehformaten stets von ungebremster Energie geprägt ist. In Filmen wie Der Rote Kakadu (2005) und Dreileben. Komm mir nicht nach (2011) sowie der Serie Im Angesicht des Verbrechens (2010) bezog sich Graf auf die neuen Verhältnisse. Zwischen den Zeilen erweist sich aber auch seine meisterhafte, frei nach Erich Kästner entstandene Liebes- und Zeitgeschichte Fabian oder Der Gang vor die Hunde (2021) als tiefgründiger Diskurs über die Gegenwärtigkeit. Getragen von Trauer und Euphorie, Leid und Hoffnung, wägt Graf die Möglichkeiten und Gefährdungen einer fragilen Gesellschaftsordnung ab. Nur wenige deutsche Filmschaffende konnten wie er ein umfangreiches Œuvre aufbauen. Dies gelang Tom Tykwer, der spätestens mit TRAUM UND WIRKLICHKEIT, MYTHEN UND MYSTERIEN Zu den wichtigsten Künstler:innen des deutschen Gegenwartsfilms zählt auch Christian Petzold. »Die Heldinnen von Christian Petzolds stillen, wachsamen Ost-West-Filmen ›Yella‹ [2007], ›Jerichow‹ [2008] und vor allem ›Barbara‹ [2012] haben diese neue Phase der deutsch-deutschen Annäherung teilweise vorweggenommen. Der Filmemacher, selbst Kind von vor dem Mauerbau in den Westen geflüchteten Eltern, hat den widersprüchlichen Ost-Identitäten mit Nina Hoss ein Gesicht gegeben. Eines, das bleibt in der Geschichte des Nachwendekinos.«13 In Yella verlässt eine junge Frau die ostdeutsche Provinz, um in Hannover einen Job als Buchhalterin anzutreten. Mit Bilanzen kennt sie sich aus, doch hat sie etwas Besseres verdient als den Betrug durch einen dubiosen Arbeitgeber, der im eigenen Büro Hausverbot hat. In einem Hotel auf dem Expo-Gelände trifft sie einen Mann, der für eine Private-Equity-Firma arbeitet. Eine andere Welt tut sich auf: Freiheit, Liebe in Zeiten des Risikokapitals, der Aufstieg im Zeichen moderner Glücksritter des Kapitalmarkts und entschlossener Finanzinvestoren, die mit privatem Beteiligungskapital jonglieren, die Grenzen von Anstand und Moral festlegen – und sie rücksichtslos überschreiten. Erfolg suchen sie auf Kosten scheiternder Mittelstandsbetriebe, die nicht mehr auf die Füße kommen. Yella scheint in dieser Welt Karriere zu machen. Doch was lässt sie dafür hinter sich, was erreicht sie? Christian Petzold verhandelt solche Fragen im Gewand eines magischen Märchens. Still, stolz und hochkonzentriert durchschreitet Nina Hoss als Titelfigur eine entzauberte Welt, in der Julie Driscoll Road to Cairo singt – »die psychedelische Ballade beschreibt einen Trip, der ins eigene Ich und am Ende buchstäblich in den Untergang führt«.14 Petzold liebt solche popkulturellen Bezüge, die seine Filme wie ein roter Faden durchziehen – bis zu Transit (2018) nach Anna Seghers, wo am Ende Road to Nowhere von den Talking Heads ertönt, und zu Undine (2020), in dem sich ein Paar flüsternd, raunend, beschwörend zu Stayin’ Alive von den Bee Gees seiner Liebe vergewissert. Tiefgründig verknüpft Petzold dabei Traum und Wirklichkeit, Mythen und Mysterien der deutschen Vergangenheit mit einer luziden Eleganz, wie man sie ansonsten von Jacques Rivette kennt. Solch sinnliche Erzählweise ist im deutschen Gegenwartsfilm eine eher rare Substanz, und doch findet man sie in etlichen Spielfilmen als eigenständige, erzählerische Kraft und Triebfeder. 1997 drehte Katja von Garnier Bandits, in dem sich vier Frauen als Häftlinge hinter Gefängnismauern begegnen. Diese Ausgangssituation verdichtet die Regisseurin zum Filmplakat zu Yella, 2007 von Propaganda B

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1