Leseprobe

Neuorientierung 1990 – 2023 354 GOOD BYE, LENIN! 2003 | Regie: Wolfgang Becker Eine überzeugte SED-Funktionärin fällt im Herbst 1989 ins Koma. Als sie wieder erwacht, hat die DDR aufgehört zu existieren. Der sie liebende, erwachsene Sohn möchte ihr das verheimlichen und fingiert eine Scheinrealität, in der Ost-Berlin die Grenzen für den Westen geöffnet hat. Die Tragikomödie über das Jahr 1990 und die anrührende Mutter-SohnBeziehung wurde von der deutschen Kritik zunächst verrissen. Dessen ungeachtet entwickelte sich der Film zu einem Publikumsrenner und erhielt auch internationale Filmpreise wie den französischen César und den spanischen Goya. | PM DEUTSCHE KOMÖDIE MIT DOPPELTEM BODEN »Good bye, Lenin!«, der auf der Berlinale Uraufführung feierte, wird zwei heftige Diskussionen auslösen. Die erste über die Petitesse, ob für Bürger der ehemaligen DDR ein Glas beliebiger Gurken, worauf der Aufkleber »Spreewaldgurken« praktiziert wurde, auf den ersten Biss als Fälschung zu erkennen ist. Der zweite Streit jedoch stellt die bitterernste Frage, ob Millionen Deutsche jahrzehntelang einer Lebenslüge nachhingen. Zwecks Beantwortung setzt der Film die Kappe des Narren auf, dem alles erlaubt ist – sogar das Buch der Geschichte umzuschreiben. Im Jahr 13 nach der Wiedervereinigung macht »Good bye, Lenin!« Deutschland das verlockende Angebot, das Rad der Zeit zurückzudrehen in den Herbst 1989. Das Volk demonstriert jeden Montag, und Christiane Kerner (Katrin Sass), unermüdliche Kämpferin für eine gerechte, sozialistische Republik, erleidet einen Herzinfarkt, als sie mitbekommt, wie ihr Sohn Alex (Daniel Brühl) verhaftet wird. Sie fällt ins Koma, und als sie acht Monate später erwacht, ist die Mauer gefallen [...]. Und der Doktor warnt die Familie: Die geringste Aufregung könne die Mutter doch noch ins Grab bringen. Ganz zu schweigen von einer großen Aufregung wie dem Zusammenbruch »ihres« Gesellschaftssystems. So wird für sie die Zeit retour gedreht. Mutter liegt geschwächt im hastig rückdekorierten Schlafzimmer, und um sie herum lassen ihre Kinder die DDR fröhliche Urständ feiern. Im Kleinen, wenn sie die falschen Gurken ins Glas der aus den Regalen verschwundenen Ost-Marke »Spreewald« stopfen, und im Großen, wenn einer von Alex’ Freunden – angehender Filmemacher – beruhigend dröge Ausgaben der »Aktuellen Kamera« produziert, die ihr jeden Tag pünktlich um 19.30 Uhr im Fernseher vorgeführt werden. Das klingt nach unbeschwertem Klamauk, und das ist eine Weile unbeschwerter Klamauk, mit dem Regisseur Wolfgang Becker [...] freche Seitenhiebe in beide Himmelsrichtungen austeilt. Unmerklich versieht Becker Gags zunehmend mit einem doppelten und dreifachen Boden, wie bei dem Taxifahrer, den Daniel anstarrt, weil er seinem Kindheitsidol, dem DDR-Kosmonauten Sigmund Jähn so ähnlich sieht. Der Fahrer streitet alles ab (»Ich werde oft verwechselt«), aber könnte es nicht trotzdem Jähn sein, der sich seines tiefen Falles schämt? »Good bye Lenin!« steuert, während alles darauf wartet, dass dieser Schwindel einfach auffliegen muss, auf einen ungeheuerlichen Gag zu, den man keinesfalls verraten darf, weil er nicht nur diese Geschichte auf den Kopf stellt, sondern Weltgeschichte. Es ist eine Wende von der Wende, historisch absurd, wirkt aber wie ein spätes Reue-Angebot der erobernden an die eroberte Teilnation. Wolfgang Beckers Film – so wunderbar offen und zwischentönig er ist – scheint sich am Schluss zu einer klaren Antwort durchzuringen: Jawohl, DDR-Jahre waren verlorene Jahre. Hanns-Georg Rodek Berliner Morgenpost 13. Februar 2003

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