389 Neuorientierung 1990 – 2023 UND MORGEN DIE GANZE WELT 2020 | Regie: Julia von Heinz Der in der Antifa-Szene spielende Film zeigt die junge Jurastudentin Luisa, dargestellt von Mala Emde, die zur Aktivistin wird. Die Aktionen gegen Rechtsextreme führen sie in die Radikalisierung und schließlich in militante gewaltsame Auseinandersetzungen. Die Entdeckung eines von einem rechten Netzwerk aufgebauten Waffenarsenals, das sie mit Freunden beiseiteschafft, stellt sie vor die klaren Alternativen, das Arsenal zur Selbstjustiz zu nutzen oder eben nicht. Die Regisseurin Julia von Heinz griff bei diesem Film teilweise auf ihre eigenen Erfahrungen als Jugendliche zurück. | RR SIRENEN WERDEN SCHRILLEN [...] Die Kälte der Welt scheint das Gesicht der jungen Aktivistin zu verhärten, als sie auf die Straße tritt. [...] Es ist dieser Gesichtsausdruck der 24-jährigen Schauspielerin Mala Emde, der einem beim Zuschauen bis in die Knochen fährt. Immer wieder blitzt er auf in ihrer Figur Luisa, hinter einem unschuldigem Mädchenstaunen, das verlischt, einem kleinen Auflachen, das verhallt. Eine Totenmaske. [...] Der Film scheint vorauszusetzen, dass der Zuschauer schon weiß, was auf dem Spiel steht: die neue Normalität des Hasses. Die neuen Rechten, über deren Aufstieg vor ein paar Jahren viel zu lesen war, deren Abstieg einfach nicht einsetzen will, gegen die kein demokratisches Kraut gewachsen zu sein scheint. Die früher nur von Linksextremen gestellte Frage, ob Polizei und Bundeswehr von rechten Netzwerken unterwandert sind. [...] Die von Daniela Knapp geführte Kamera folgt Luisa wie ein Fluch, zittrig und nervös, immer nah dran. Keine Einstellung, in der Raum wäre, um Luft zu holen. Es sind ruppig geschnittene, melancholische Bilder. [...] Luisa, deren Radikalisierung einsetzt, als sie nach einer zunächst friedlichen Protestaktion mit dem Gesicht auf dem Beton liegt, die Hand eines Glatzennazis zwischen den Beinen, sein Knie auf dem Hals. Der Angreifer im Film wirkt, als sei er aus der Bomberjackenzeit der Neunzigerjahre herangesprintet, um Schmerz zu verbreiten, aber die Protestaktion richtete sich gegen eine gänzlich aktuelle bürgerliche Hasspartei, deren Logo sich aus den Farben Blau und Rot zusammensetzt. [...] Seine stärksten Szenen bezieht der Film aus der Begegnung mit einer Art Antifa-Gespenst. Dietmar war in den Neunzigern mal eine große Nummer in der Szene und dann im Knast, weil er »Siemens angegriffen« hat. Jetzt bietet er dem Trio aus Luisa und den beiden NazijägerJungs Zuflucht vor der Polizei im miefigen Einfamilienhaus seines verstorbenen Vaters, wo er allein lebt, zwischen nicht gespültem Geschirr und abgelaufenen Chipspackungen. Er genieße die Ruhe, sagt er, nach all der Zeit in WGs und der Doppelzelle, aber die Einsamkeit, die er ausstrahlt, ist erdrückend. Er habe beweisen wollen, dass er »ein ganz ein Harter« sei, sagt er. Seine Genossen hätten Karriere gemacht, während er im Knast war, seien ja auch alle nicht dumm gewesen. »Letztlich hatten wir auch nur ein paar einfache Antworten auf eine komplexe Welt.« Luisa hört die Botschaft, aber ihr Gesicht ist wie ein Brunnen, in den man einen Stein wirft, und dann kommt einfach kein Plumps-Geräusch. So driften die beiden wahren Idealisten des Films aneinander vorbei: eine junge Juristin, die zu ahnen beginnt, dass der demokratische Rechtsstaat auf Bedingungen fußt, für die er selbst nicht garantieren kann; und ein älterer Mann, der die Größe hat, seine kleinbürgerliche Armseligkeit endlich mit Würde zu tragen. »Der Knall, der die Welt verändert«, wie Dietmar sagt, »der wird nicht kommen.« Oder etwa doch? [...] Philipp Bovermann Süddeutsche Zeitung 28. Oktober 2020
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