393 Neuorientierung 1990 – 2023 IM WESTEN NICHTS NEUES 2022 | Regie: Edward Berger Bei der Oscarverleihung 2023 war Edward Bergers Verfilmung des Romans von Erich Maria Remarque in neun Kategorien nominiert – vier konnte er für sich entscheiden und wurde somit zum erfolgreichsten deutschen Film überhaupt bei den Oscars. Zwar gab es auch kritische Stimmen wegen der starken Eingriffe Bergers und seiner Drehbuchautor:innen in den Originalplot von Remarque. Überwiegend attestierte die Rezeption der Netflix- Produktion aber eine herausragende Wirkung wegen ihrer in allen Gewerken hohen künstlerischen Qualitäten, die dem Ziel folgen, den Wahnsinn des Krieges vor Augen zu führen. | NW »Dies ist weder eine Anklage noch ein Bekenntnis. Es ist der Bericht über eine Generation, die vom Krieg zerstört wurde. Auch wenn sie seinen Granaten entkam.« So nüchtern wie ein Bericht ist es natürlich nicht erzählt, weder vom Autor Erich Maria Remarque, der den Krieg am eigenen Leib erfahren hat, noch von Edward Berger, der gut hundert Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs und gut 90 Jahre nach der ersten Verfilmung von Lewis Milestone jetzt die erste deutsche Interpretation des Stoffes geliefert hat. Am Anfang sieht man die jungen Männer, fast noch Kinder. Naiv und scheu schauen sie in die Welt, voll freudiger Erwartung eines großen Abenteuers und erfüllt von vaterländischem Pathos. Es ist 1917, die Lage an der Westfront ist schon ziemlich aussichtslos, monatelang wird hier erbittert um ein paar Meter Land gekämpft. »Es wird von euch erwartet, dass ihr wenigstens sechs Wochen überlebt!«, bellt der Kommandant, der die Teenager empfängt und notdürftig einweist: »Wollt ihr in sechs Wochen noch leben?« Unter dem Vorspann war eine andere Gruppe junger Soldaten zu sehen, die aus den Schützengräben nach draußen, ins grauschlammige Schlachtfeld getrieben werden, wo sie einer nach dem anderen sterben. Ihre Uniformen werden eingesammelt, gewaschen und geflickt und dann wieder an nachrückende Soldaten verteilt, der ewige Kreislauf des Krieges, ein menschenverschlingender Moloch. Auch heute noch packt der mit drei Oscars ausgezeichnete Film von Lewis Milestone von 1930. Doch Edward Berger überträgt die Erfahrung des Kriegs noch direkter, physischer auf den Zuschauer, lässt ihn die klamme Kälte, den nagenden Hunger, die Angst und das Grauen zusammen mit dem jungen Paul (Felix Kammerer) und seinen Kriegskameraden spüren. Die Szene, in der Paul zuerst auf einen französischen Soldaten einsticht und sich dann in rührender Verzweiflung um ihn kümmert, wirkt in der heutigen Version um einiges stärker, erst der Furor des Tötens, dann die Menschlichkeit der Fürsorge, erst die Sinnlosigkeit, dann die Besinnung. In den Bildern, die Berger und der britische Kameramann James Friend erschaffen haben, ist der Krieg ein apokalyptisches Weltuntergangsszenario, das er mit der vollen Wucht des Kinos auf die Leinwand schleudert, in malerisch zerklüfteten Landschaften, aus denen nur noch ein paar winterliche Baumgerippe ihre kahlen Finger anklagend in den Himmel recken. Erde, Schlamm und Körper verschmelzen zu einer einzigen Masse, die alle Farben ausbleicht, bis der Farbfilm fast schwarz-weiß erscheint. Und irgendwann kündigen sich auf der Tonspur die ersten Panzer an, monströse Kriegsmaschinen, die die Erde erbeben lassen. Die Westfront als Dystopie, mit einem wuchtig dräuenden Sounddesign, das die Höllenmaschine des Krieges zum alles verschlingenden Monster macht. [...] Anke Sterneborg epd Film 23. September 2022
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