16 Die über 120 Jahre der deutschen Filmgeschichte sind stärker als die der meisten anderen großen nationalen Kinematografien von politischen Brüchen gekennzeichnet – vom Kaiserreich bis zum wiedervereinigten Deutschland. Hinzu kamen, wie bei allen Filmnationen, die Entwicklungen des Mediums selbst, die zu veränderten Produktionsweisen führten und die Konkurrenz anderer Bewegtbildmedien brachten. Dabei entstanden Angebote, die ein immer größeres Publikum gewannen, zunächst die des Fernsehens, sehr viel später und heute aktuell, die der Streamingplattformen. Eine Präsentation zur deutschen Filmgeschichte, die ein Dutzend Dekaden umfasst, kann daher nur eine Auswahl bieten und Schwerpunkte setzen, die sich nicht zuletzt einer Perspektive verdanken, in der die Bedeutung für die Gegenwart eine große Rolle spielt. Es ist also nicht »der«, sondern ein Überblick zum deutschen Film. Eine Perspektive, die gemeinsam in vielen Gesprächen und Sichtungen überprüft wurde und in der nicht allein Titel, die als Klassiker gelten, sozusagen seit jeher dem Kanon berühmter Werke angehören, im Fokus stehen, sondern auch solche, die sich mit ihren Themen, ihrer Form unserer Gegenwart öffnen. In der etablierten Filmgeschichtsschreibung spielten sie möglicherweise nur am Rande eine Rolle oder wurden gar vernachlässigt, erweisen sich heute jedoch als erste Beispiele von Traditionen, die sich im kulturellen Diskurs erst entwickelten und zur gesellschaftlichen Realität beziehungsweise Akzeptanz fanden. Die Bedeutung von Frauen – von Regisseurinnen, Produzentinnen und prägenden Darstellerinnen – für die Entwicklung des deutschen Films ist ein solcher Aspekt, der vernachlässigt wurde. Folglich blieben diese Protagonistinnen weitgehend unbeachtet, werden heute aber ebenso sichtbar als Vorläuferinnen wie die ersten Filme mit queeren Themen. KAISERREICH Der Film im deutschen Kaiserreich war das Feld der Pionier:innen und Erfinder:innen. Die junge Technik bot Spielraum für weitgehende Verbesserungen, sowohl der Aufnahmegeräte als auch der Projektoren und Kopierwerke. Kennzeichnend war anfangs die Mehrgleisigkeit der Aktivitäten. Nicht nur Oskar Messter stellte diverse Apparate – sozusagen die Hardware des Filmgeschäfts – her und daneben auch als »Software« eigene Filme in großer Zahl, von denen er die meisten zudem auch selbst inszenierte. Ähnliches galt für viele der ersten Protagonist:innen des deutschen Films, auch für Guido Seeber, der eigene Apparate entwickelte, frühe Kurzdokumentationen drehte und als Spezialist für filmische Tricks die Sprache des Mediums um neue Möglichkeiten bereicherte. Seine perfekten Doppelbelichtungen machten das Unheimliche des Films Der Student von Prag (1913, Stellan Rye), in dem der von Paul Wegener gespielte Student Balduin sein Spiegelbild verkauft und fortan unter ihm als seinem Doppelgänger leidet, erst möglich. Schon ein Jahr zuvor hatte er mit dem Bau des Glasateliers in Neubabelsberg eine Produktionsstätte konzipiert – eine Keimzelle, aus der sich binnen weniger Jahre der bedeutendste Standort der deutschen Filmindustrie entwickeln sollte: das Studiogelände Babelsberg. Bis zum Ersten Weltkrieg war das Filmangebot in Deutschland stark international geprägt, nicht zuletzt spielten französische Titel eine große Rolle. Die Kapitalkraft des Pathé-Konzerns war im Vergleich mit den deutschen Firmen enorm, sein Output an Filmen übertraf den jeder einzelnen deutschen Produktionsgesellschaft beträchtlich. Doch konsolidierte sich im Kaiserreich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bereits eine Art Formatierung, die für die Filmbranche prägend wurde. Die provisorischen Spielstätten hatten sich überlebt, in den Städten wurde feste Abspielstätten eingerichtet, schon bald auch prunkvolle Kinopaläste für Hunderte von Zuschauer:innen, die aus allen Schichten stammten. Mit der Etablierung längerer Filmformate entstanden Verleihfirmen, die die Kinos mit Kopien versorgten. Beide Entwicklungen gaben der Filmindustrie die Struktur, die für die nächsten Dekaden gültig blieb. Zunächst allerdings war grundsätzlicher Widerstand gegen das neue Medium zu überwinden. Die sogenannte Kinoreformbewegung, die ab etwa 1907 eine Kampagne gegen »Schund und Schmutz« führte, richtete sich gegen vermeintlich verderbliche Einflüsse, die von Kriminalfilmen, Melodramen und Sozialdramen ausgingen. Zwei frühe Entwicklungen standen dieser konservativ-bildungsbürgerlichen Initiative erfolgreich gegenüber: Der Autor:innenfilm bot bereits ab 1910 bekannte Dramatiker:innen und Theaterschauspieler:innen auf, seine Stoffe verstanden sich als seriös und knüpften an die literarische Tradition der Zeit an. Max Reinhardt, der Starregisseur des Deutschen Theaters in Berlin, inszenierte früh auch für das neue Medium. Als Ausweis ernsthaften Strebens galt auch die Mitwirkung bekannter Bühnendarsteller:innen, darunter Alfred Bassermann und Paul Wegener. Die zweite Entwicklung schlug einen anderen, vom Theater gänzlich unabhängigen Weg ein. Mit Asta Nielsen, die nach ihrem dänischen Sensationserfolg Afgrunden (1910, Urban Gad) nach Deutschland verpflichtet wurde, trat ein Star auf, der frei von Bühnenkonventionen agierte und damit den Film revolutionierte. Sie wurde mit ihren ab 1911 in Deutschland entstehenden Filmen, zunächst immer unter der Regie von Urban Gad, der erste veritable Weltstar des jungen Mediums. Ihre Filme wurden noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf allen Kontinenten gespielt, sie galt als Inbegriff des modernen Schauspiels im Film. Mit ihr wurde die Bedeutung von »Stars« für den Filmerfolg evident. Oskar Messter etablierte in einer geschickten Kampagne Henny Porten; andere Darstellerinnen, beispielsweise die US-Amerikanerin Fern Andra, zugleich Produzentin ihrer Filme, Mia May oder Ossi Oswalda, führten das Modell fort. Im Ersten Weltkrieg war auf dem heimischen deutschen Markt die internationale Konkurrenz weitgehend ausgeschaltet, doch trat die dänische Nordisk Films Kompagni sozusagen die Nachfolge früher dominierender Firmen an. Der deutsche Zweig der Firma ging in die Neugründung der Universum Film AG (UFA) ein, die vom Deutschen Reich ausging und verdeckt finanziert wurde, geplant als Gegengewicht gegen die als übermächtig empfundene alliierte Filmpropaganda. Entsprechende Produktionen kamen zwischen der Gründung im Dezember 1917 und dem Waffenstillstand von Compiègne am 11. November 1918 zwar kaum in die Kinos, doch mit dem Konzern war eine Macht entstanden, die innerhalb der deutschen Filmindustrie fortan eine große, mitunter dominierende Rolle spielen sollte.
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