15 2 | Evelyn Krull · Selbst · 1986 II. Wie bereits beschrieben, entwickelte sich eine vielgestaltige Autor:innenfotografie, die teils dem dokumentarischen Stil folgte, teils sozialdokumentarisch geprägt war, teils künstlerische Autonomie für sich beanspruchte – und vieles mehr. Möglich war dies durch verschiedenste Initiativen, Kontexte und Rahmungen, die auch zu einer zunehmenden Anerkennung der Fotografie als eigenständiges und künstlerisches Medium führten. Es gab mehrere Ausbildungsstätten, darunter die Hochschule für angewandte Kunst in Berlin und für wenige Jahre die Staatliche Hochschule für Werkkunst in Dresden. Doch immer wieder tritt die Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB) in den Vordergrund. Lehrende wie Arno Fischer, Evelyn Richter, Helfried Strauß, Sieghard Liebe und andere bildeten im Schutz der HGB Generationen von Fotograf:innen aus. Doch die Plätze waren rar, so wichen nicht wenige – darunter auch Gerdi Sippel – auf ein Fernstudium aus. Bis weit in die 1970er-Jahre wurde Fotografie an der Hochschule in Zusammenhang mit Buchgewerbe und als Sach- und Architekturfotografie für Werbung und Bildjournalismus gelehrt. Besonders die 1980er-Jahre waren ausnehmend produktiv und brachten eine Vielzahl an qualitätvollen Arbeiten von Studierenden hervor. Sie entwickelten ganz eigene Handschriften und fanden zu individuellen fotografischen Haltungen und Sprachen. In der Lehre wurde ein genauer und kritischer Blick geschult, eine Hinwendung zum Motiv und das Bemühen um Authentizität waren dabei zentral. Die einzelnen Projekte bewegten sich zwischen einer Bildsprache, die von Assoziation und Andeutung geprägt war, und der Tradition einer erzählerischen, sozialdokumentarischen Fotografie. Nachvollziehbare Bezüge etwa zu August Sander, Helmar Lerski, Robert Frank, Edward Steichens Ausstellungsprojekt The Family of Man oder zur Subjektiven Fotografie Otto Steinerts machen deutlich, dass Fotografie in einem Bezugsgeflecht gelehrt wurde.13 Auf Gerdi Sippels Fotografien im Porphyrbruch sei hier verwiesen: Für ihr Diplom bei Sieghard Liebe legte sie 1984 ein Buch mit Aufnahmen aus einem Steinbruch in Rochlitz vor. Zu sehen ist Arbeit, sind Arbeiter – ein höchst politischer Topos im Sozialismus. Sippel hat diese Fotografien nicht gemacht, um das Heldenepos rund um das Bild des Arbeiters zu bedienen. Ihr Blick war ein anderer, zurücknehmend und reduziert sind der Ort, das Werkzeug und die gezeichneten Männer ins Bild gesetzt.14 Neben den Hochschulen war der fachliche Austausch in kollegialen und freundschaftlichen Kreisen bedeutsam. Denn für viele war dieser auch über die Grenzen hinweg möglich, mehr als gemeinhin angenommen, sei es mithilfe von Büchern und Erzählungen, sei es mit Gästen aus dem Ausland.15 Es gab immer wieder fotografische Ausstellungen in Kulturhäusern oder Stadtbibliotheken. Galerien wie etwa Weißer Elefant, Berlin, Galerie Mitte, Dresden, Galerie Oben, Karl-Marx-Stadt, und EIGEN+ART, Leipzig, hatten gleichermaßen Einfluss und zeigten auch immer wieder Ausstellungen rund um das Medium Fotografie. So wurden diese Räume zu bedeutenden Plattformen für Fotograf:innen. Bereits als 18-Jährige fotografierte May Voigt als Autodidaktin in den Kreisen um die Galerie Oben und zeichnete als Nachfolgerin von Christine Stephan-Brosch über viele Jahre hinweg Veranstaltungen, Personen und Mittwochsgespräche auf. Sie wurde bis Mitte der 1980er-Jahre zu einer wichtigen Chronistin: Unaufdringlich, mittendrin und nah am Geschehen fotografierte sie nicht nur in der Galerie selbst, sondern auch in Ateliers assoziierter Künstler:innen. Alle diese Fotografien begriff sie als Dokumentationen, die parallel zu eigenen Projekten standen.16 Für jene legte May Voigt eine stetig wachsende Negativsammlung als Archiv an, aus dem sie schöpfte und oft ein, zwei Jahre später einzelne Bilder auswählte und als Unikate abzog. Diese Einzelbilder – Voigt arbeitete nie in Serien – wiederholten sich motivisch, 13 Um 1980 kam es zu Umstrukturierungen in der Lehre: Es kam zu Berufungen von Helfried Stauß (1978, Fachklasse für angewandte Fotografie), Hermann Raum (1978, Honorarprofessur für die Geschichte der Fotografie), Peter Pachnicke (1980, Leitung der Abteilung Fotografie), Evelyn Richter (1981, mit einer eigenen Fachlasse), Arno Fischer (1982). Zudem erfolgte die Gründung der Galerie der HGB 1979, in der jährlich Diplomarbeiten – auch aus dem Fachbereich Fotografie – ausgestellt wurden und in der u.a. internationale fotografische Positionen zu sehen waren. Horst Thorau leitete das Fernstudium der Abteilung Fotografie (1963–1989) und Sieghard Liebe – einst selbst Absolvent der HGB – war von 1966 bis 1992 Oberassistent. Vgl. Ausst.-Kat. Fotografie Leipziger Schule. Arbeiten von Absolventen und Studenten 1980–93, Leipzig 1993; Ausst.-Kat. Freundschaftsantiqua. Ausländische Studierende an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig – ein internationales Kapitel der Kunst der DDR, hrsg. von Julia Blume und Heidi Stecker, Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, Leipzig 2014; Philipp Freytag, »Gegen das eilige Fotografieren. Über einige Diplomarbeiten der Klassen Fischer und Richter an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig«, in: Ausst.-Kat. Ursula Arnold, Arno Fischer, Evelyn Richter – Gehaltene Zeit, hrsg. von Jeanette Stoschek und Patricia Werner, Museum der bildenden Künste Leipzig, Kunsthalle der Sparkasse Leipzig, Dortmund 2016, S.262– 269; Christoph Türcke, Jörn Lies (Hrsg.), Ins Schauen vertieft – Helfried Strauß und die HGB, Leipzig 2023. 14 Johanna Gerling im Gespräch mit Gerdi Sippel, 21. 8. 2023. 15 Wenzel 2022 (wie Anm.10), S.167. Es war vielleicht nicht uneingeschränkt eine geschlossene Gesellschaft – und vor allem war es kein abgeschlossenes Kapitel. Allein die Umbrüche und Kontinuitäten der 1990er-Jahre werden erst in jüngerer Zeit freigelegt. Auch sie sind es, die bis in heutige, jüngere Generationen hineinwirken und Haltungen prägen (vgl. Jan Wenzel, Anne König, Andreas Rost u.a. (Hrsg.), Das Jahr 1990 freilegen, Leipzig 2019). Vgl. weiterhin die Tagung Die globale DDR. Eine transkulturelle Kunstgeschichte (1949–1990), 9.–11.6.2022, TU Dresden und Albertinum, Staatliche Kunstsammlungen Dresden; Ausst. Revolutionary Romances? Globale Kunstgeschichten in der DDR, Albertinum, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 2023/24. 16 Johanna Gerling im Gespräch mit Jochen Voigt, May Voigts Witwer, 4.7.2023.
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