19 Doch manche Motive und Genres verweigern sich vielleicht möglichen Angriffsflächen. Zum Beispiel bei Christine Stephan-Brosch, die ebenfalls an der HGB studierte, mit ihren Porträt- und Naturfotografien: Ihre Porträts – dem klassischen Genre der Literatur-, Kunst- und Theaterwelten folgend – sind Bilder von Persönlichkeiten, vor allem Künstler:innen, die sie im Atelier, auch beim Arbeiten, fotografierte. Es sind Bildnisse aus nächster Nähe, immer wieder der Fokus auf das Gesicht und die Linien, die das Leben in die Gesichter eingeschrieben hat. Diese gleichen Linien lassen sich in den Serien Annäherung an den Baum und Kreuz im Gebirge finden: Stephan-Brosch fotografierte in der Natur Bäume, ebenfalls in Schwarz-Weiß, mal mit Distanz und so den Umraum Wald sichtbar machend, mal nah und die Strukturen der Rinden einfangend. Es sind Strukturen, die menschengemacht sind oder die von der Natur und ihren Witterungen eingeschrieben wurden. Christine Stephan-Brosch schrieb einmal selbst, dass ihre fotografische Praxis einer Suche nach Spuren gleichkäme.22 III. Abschließend die Frage: Ist es der richtige Weg, die Arbeiten von Christine StephanBrosch, Evelyn Krull, Gerdi Sippel und May Voigt mit soziopolitischen und soziologischen Fragestellungen zu verbinden? Sollten wir die Werke betrachten, ohne gleich zu versuchen, Lebens- oder Arbeitsbedingungen zu beschreiben? Können die Fotografien nicht für sich allein und mit Blick auf Ästhetik und Inhalt betrachtet werden? Was lesen wir in die Fotografien hinein? Und weiterhin könnte man fragen: Ist es der richtige Weg, die Fotografien immer wieder vor der Folie einer zeitgeschichtlichen Vereinnahmung ostdeutscher Kunst zu interpretieren? Wie finden sie ihren Weg in einen Kanon, der über exemplarische Betrachtungen hinausweist? Diese Fragen lassen sich nicht so leicht beantworten und werden hoffentlich immer wieder auf Neue diskutiert.23 Vielleicht ist es aber auch zu früh, die verschwimmenden Grenzen zwischen Kunst-, Geschichts- und Sozialwissenschaften zu negieren, denn es eröffnen sich so auch Freiräume für Interpretationen. Die Abgrenzung, die eine Gruppe mit einer Art kollektivem Gedächtnismuster von anderen unterscheidet, wird sich mit fortschreitender Zeit auflösen. Die DDR verblasst in Erinnerungen von Zeitzeug:innen und es wächst die Verantwortung – und Herausforderung –, Wissen möglichst wertfrei weiterzutragen.24 Bei den Fotografien in vorliegendem Buch mag es nicht um einen offenen politischen Diskurs gehen. Aber finden wir nicht absichtsvoll eine Sicht von innen vor? Es sind Beschreibungen von Räumen – privat, kreativ, grafisch, imaginativ – jenseits gesellschaftlicher Angelegenheiten. Und es ist durchaus auch eine existenzielle Art, aus einem nichtdomestizierten Denken heraus eigene Sichtweisen so in Fotografien zu beschreiben. Die Arbeiten mögen eine Bekundung einer persönlichen Weltauffassung sein, aber wie diese sichtbar gemacht wird, bleibt oft einer wechselnden Kontextualisierung, der persönlichen Sicht und der Interpretation überlassen. 4 | May Voigt · Selbstporträt mit Spiegel · 1982–1983 22 Christine Stephan-Brosch, zit.n. DDR Frauen fotografieren. Lexikon und Anthologie, hrsg. von Gabriele Muschter, Berlin 1991, S.144. 23 Vgl. das Symposium Long Time, No See, Fotografie in und aus Ostdeutschland, weißensee kunsthochschule berlin, 10.– 11.12.2022, hier insbesondere die Einführung von Sonia Voss. 24 Susanne Altmann, »Mission Possible. Unsystematische Überlegungen zum Umgang mit sichtbaren und unsichtbaren Kunstwerken der DDR«, in: Ausst.- Kat. Schlaglichter Sammlungsgeschichte(n): Ausstellung in drei Teilen in Cottbus – Eisenhüttenstadt, Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus, Cottbus 2017, S.9–15, hier S.11. Vgl. weiterhin den Workshop Geschichtsbilder in der Gegenwartskunst – (Selbst-)Erzählungen und Umbruchspuren im Œuvre von Künstler*innen, Universität Potsdam, 22.9.2023.
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