Christine Stephan-Brosch 24 Die Kultur hat die 1939 geborene Fotografin schon früh in ihren Bann gezogen. Es sei eine Kabarett-Aufführung in den 40er-Jahren gewesen, die sie gemeinsam mit ihrem Vater besucht und die ihre Faszination für die Fotografie geweckt habe, erinnert sie sich im Gespräch.2 Dort tanzte und spielte eine der Darstellerinnen mit Fotonegativen. Doch es sollte noch eine Weile dauern, bis sich Christine Stephan-Brosch selbst auch der Fotografie widmete, denn zunächst galt ihr eigenes Interesse der Zeichnung und der Malerei. Um sich für ein Studium an einer Hochschule zu qualifizieren,besuchte Christine StephanBrosch von 1955 bis 1958 die Arbeiter- und Bauernfakultät für Bildende Kunst an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Arbeiter- und Bauernfakultäten (ABF) gab es seit 1949 in vielen Städten der DDR – beinahe an jede Universität und Hochschule gliederte sich eine solche Einrichtung an.3 Nach dieser dreijährigen Qualifikation nahm Christine Stephan-Brosch 1959 ihr Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig (HGB) auf.4 Die Entscheidung zugunsten der Fotografie und nicht etwa der Malerei war zunächst rein psychologisch: Denn während der Verkauf eines Gemäldes stets mit einem Verlust der nach außen gebrachten und auf Leinwand festgehaltenen Gefühle einhergehe, bleibe von einer Fotografie immer noch ein Teil bestehen, nämlich das Negativ. Diese Beständigkeit ist Christine Stephan-Brosch bis heute wichtig. Beständigkeit, zum Beispiel, wenn es darum geht, Menschen, Gegenstände und alltägliche Beobachtungen durch die Fotografie festzuhalten, um sich später daran erinnern zu können. Denn »wer nicht abgebildet wurde, hat nicht gelebt«, fasst die Künstlerin, die schon früh ihre Familie verloren hat, den Zweck ihrer Fotografie zusammen.5 Sich selbst treu zu bleiben und sich möglichst wenig von außen beeinflussen zu lassen, war der Fotografin von Anfang an wichtig. Das gilt sowohl für politische Einflüsse als auch für künstlerisch-bildliche. Sie habe sich selbst im übertragenen Sinne »Scheuklappen« zugelegt, um möglichst unabhängig ihren eigenen Weg zu gehen. Ihre Priorität dabei: selbstständig arbeiten und sie selbst bleiben. An der HGB erlernte Christine Stephan-Brosch zunächst das technische Rüstzeug des Fotografierens. Für die angehende Fotografin war dies essenziell, denn anders als die meisten ihrer Kommiliton:innen beherrschte sie das Handwerk anfangs noch nicht. Gut ausgeprägt war im Gegensatz ihr »Sehen-Können«, also das Gefühl für die Bildkomposition, das sie bereits durch das Malen und Zeichnen verinnerlicht hatte und das in ihren Bildern vermeintlich Alltägliches durch die Hervorhebung feinster Nuancen zu Besonderem werden lässt.6 Bereits im Laufe des Studiums porträtierte Christine Stephan-Brosch bekannte Persönlichkeiten. Otto Dix (1891–1969) etwa fotografierte sie im Jahr 1964, kurz vor ihrem Diplom (Kat.6). Zum 200-jährigen Gründungsjubiläum der Dresdner Kunsthochschule war er als ehemaliger Schüler und Professor anwesend. Der eindringliche Blick des Künstlers fixiert sein Gegenüber, mit dem er ins Gespräch vertieft ist. Christine Stephan-Brosch nutzt hierbei die Schärfentiefe, um den Fokus ganz auf Dix’ Gesicht zu lenken. Seine rechte Hand im Vordergrund, mit der er sein Gesagtes gestikulierend begleitet, ist wesentlich unschärfer zu sehen. Die Fotografin schafft es so immer wieder, eine unmittelbare Nähe zum Geschehen und eine gleichzeitige Distanzierung entstehen zu lassen. Ein Jahr zuvor fotografierte sie Wilhelm Rudolph (1889–1982) in dessen Atelier (Kat.8–12). Die dort entstandenen Studien zeigen den Künstler bei der Arbeit, beim Malen an der Staffelei und Herstellen eines Druckstocks. Mit hochgekrempelten Hemdärmeln hantiert der Maler in seinem Atelier und ist dabei voll und ganz in sein Werk vertieft. Auch hier scheint es, als würde er die Fotografin selbst nicht wahrnehmen, während er sein Werk kritisch und nachdenklich beäugt, um sogleich wieder den Pinsel anzusetzen. Umso mehr erstaunt das Porträt, auf dem uns Wilhelm Rudolph direkt anschaut (Kat.7). Schnell wird klar: 2 Das Gespräch mit Christine StephanBrosch wurde am 6.9.2023 geführt. 3 Mit den ABF verfolgte man das Anliegen, jungen Menschen vor allem aus Arbeiter- und Bauernfamilien, also oft aus Elternhäusern ohne höhere Bildung, einen bildungsbezogenen Aufstieg zu ermöglichen. Man wollte dem fest verankerten Bildungsprivileg entgegenwirken, das bis dahin beinahe ausschließlich der oberen Akademiker:innenschicht vorbehalten war. Der durchaus nachvollziehbare und lobenswerte Gedanke, Bildungschancen gerechter zu verteilen, war auch ganz im Sinne der sozialistischen Idee, den Zugang zu höherer Bildung unabhängig von Besitz und Klassenzugehörigkeit zu ermöglichen. In besagter Dresdner ABF wurden den Studierenden neben den allgemeinbildenden Fächern auch die »Grundlagen des Zeichnens, der Schrift [...] der Malerei, Grafik und Plastik« vermittelt, sodass sie nach dem Abschluss Kunsthochschulen besuchen durften. Michael C.Schneider, Bildung für neue Eliten. Die Gründung der Arbeiter-und- Bauern-Fakultäten in der SBZ/DDR, hrsg. vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden, Berichte und Studien Nr.13, Dresden 1998, S.7. »Noch freie Studienplätze«, in: Neues Deutschland, 25. 10. 1959, S. 4. 4 Für weiterführende Informationen zur HGB und deren Struktur siehe Sabine Schmids Beitrag »Fotografische Bildwelten der DDR. Eine Annäherung« in der vorliegenden Publikation. 5 Gespräch mit Christine Stephan-Brosch. 6 Ohnehin ist diese Fähigkeit ein zentrales Thema für alle der hier vorgestellten Fotografinnen, wie im Verlauf des Textes immer wieder ersichtlich wird.
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