Leseprobe

Gerdi Sippel 79 Die Form der Serie kommt dem Darstellen dieser Prozesse äußerst zugute. Konkrete Arbeitsabläufe und -schritte spielen allerdings keine Rolle. Lose zusammengesetzte Bildfolgen ohne strenge Reihenfolge geben die unterschiedlichen Arbeitswelten wieder. Das Karl-Marx-Städter Brühl-Viertel, in dem Gerdi Sippel eine Zeit lang wohnte, gehört zu einem Areal, das bei den Luftangriffen auf Chemnitz im Jahr 1945 im Vergleich zur Innenstadt wenig zerstört worden war, sodass noch viele Altbauten erhalten geblieben waren. In den 80er-Jahren wurde es saniert und zum Boulevard umgebaut. Es florierte zu einem Wohn- und Einkaufsviertel. Ihre Atelierwohnung im Dachgeschoss eines der Gebäude am Boulevard ermöglichte es der Fotografin, den Blick von oben auf das Baustellengeschehen in einem Innenhof zu richten (Kat.56–60).Stilllebenartig liegen dort Werkzeuge und andere Hilfsmittel wie eine Leiter, ein zusammengerolltes Seil und ein Balken zum Absperren auf dem Boden. Obwohl kaum ein Mensch auf dieser Baustelle fotografiert wurde, ist deren Anwesenheit und ein Fortschreiten der Arbeit ganz klar sichtbar, denn von Bild zu Bild sind unterschiedliche Bauphasen zu erkennen. Lediglich ein einzelner Bauarbeiter ist zu sehen. Beim Verteilen des kleinteiligen, dunklen Belags hinterlässt er ein spiralförmiges Muster auf dem Boden, fast so, als würde er dynamisch über den Platz tanzen. Dass die Arbeit Zeit in Anspruch nimmt, lässt sich nicht nur aus den unterschiedlichen Zuständen des Bodens erschließen, sondern auch aus dem Schatten des benachbarten Hauses, der sich allmählich über den Boden schiebt. Nach und nach hält Gerdi Sippel einzelne Augenblicke des Prozesses fest. Die Wahl der außergewöhnlichen Perspektive – frontal von oben – lässt die Baustelle dabei ganz sachlich wirken und verfremdet die Szene. Oft erinnern Gerdi Sippels Aufnahmen an die Ästhetik des Neuen Sehens, das in den 20er- und 30er-Jahren vor allem von Künstler:innen, die dem Bauhaus zugehörig waren oder ihm zumindest nahestanden, für die Fotografie postuliert wurde.14 Mithilfe von unkonventionellen Blickwinkeln und ungewöhnlichen Bildausschnitten wollte man einen neuen Blick auf die Welt erreichen. Ganz ähnlich ist es bei Gerdi Sippel, in deren Bildern sich einzelne Strukturen verselbstständigen und zu einem neuen Gefüge verbinden. Das Sehen und Wahrnehmen sowie die Achtung vor den Dingen seien für sie wesentlich, um gute Fotografien zu erschaffen. Die begrenzte Bildanzahl pro Film – zwölf Stück bei der Mittelformatkamera, die sie neben einer Kleinbildkamera nutzte – machte das Fotografieren umso bewusster. 14 Vgl. etwa Gabriele Muschter, »...damit ich dich besser sehen kann«, in: DDR Frauen fotografieren. Lexikon und Anthologie, hrsg. von ders., Berlin 1989, S.7–20, hier S.18.

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