Leseprobe

May Voigt 102 Anfang der 80er-Jahre wurde May Voigt für eine ihrer Fotografien im Rahmen eines Wettbewerbs zu Denkmalen ausgezeichnet. Dies scheint nicht selbstverständlich, da zu dieser Zeit aufgrund ihrer fehlenden Ausbildung ihr beruflich-künstlerischer Berufsweg schwierig war. Henry (Kat.76) zeigt ein Detail einer Gebäudeaußenfassade mit einem alten Holzfenster samt geschwungenem Jugendstil-Ziergitter. Seine besten Tage hat das Gebäude augenscheinlich schon längst hinter sich, bröckelt doch zum Beispiel bereits der Putz von der Mauer. Besonders auffällig sind die ebenfalls alten Holzbalken, die kreuzförmig vor dem Fenster angebracht worden sind. Das Haus ist dem Zerfall ausgeliefert. Es handelt sich dabei um die Villa Esche, die 1902 vom belgischen Architekten Henry van de Velde im Auftrag des Chemnitzer Textilunternehmers Herbert Esche entworfen worden und einst ein strahlendes Juwel des Jugendstils war. Zur Entstehungszeit der Fotografie wies das Gebäude jedoch längst nicht mehr diesen alten Glanz auf, was May Voigt mit ihrer Detailaufnahme eindrücklich festhielt.22 Ohne eine Ausbildung hatte May Voigt Schwierigkeiten, eine geeignete Anstellung zu finden, die zudem ihre eigenen Bestrebungen zu freier künstlerischer Tätigkeit nicht noch mehr einschränken sollte. Sie nahm schließlich 1984 eine Stelle im Stadtarchiv in Karl-MarxStadt an, die sie bis 1989 innehatte – dann bereits als Leiterin des Archivs. Hier setzte man sich bald dafür ein, dass die Fotografin nun auch die zumindest auf dem Papier nötige Ausbildung erhielt. So konnte sie schließlich an der Technischen Universität Dresden im Rahmen der dortigen Erwachsenenqualifizierung ganz offiziell zum »Facharbeiter der Fotografie« ausgebildet werden. Zuvor hatte sie bereits die Spezialschule für Fotografie in Rudolstadt besucht. Die Absolvent:innen dieser Spezialschule, die es in dieser Form seit den 70er-Jahren gab, sollten darin befähigt werden, als »künstlerische Volksschaffende« selbst Zirkel und Arbeitsgemeinschaften zu leiten. In den 80er-Jahren, als auch May Voigt in Rudolstadt war, wandelte sich die Einrichtung zu einer Art Insel für Gleichgesinnte. Das Erreichen eines Berufsabschlusses war allerdings nicht der Zweck dieser Einrichtung.23 Diesen erhielt sie dann über das Studium in Dresden. 22 Erst von 1998 bis 2001 wurde die Villa Esche umfangreich saniert und beherbergt nun mit dem Henry van de Velde Museum einen Teil der Kunstsammlungen Chemnitz. 23 Bestechliche Objektivität. Fotos der Spezialschule für Fotografie in Rudolstadt, hrsg. vom Museum für Angewandte Kunst Gera, Gera 1995, S.11, 25.

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1