Leseprobe

11 I. An dieser Stelle folgt in aller Kürze eine Skizzierung von Bereichen dieser Bildwelten, in dem Wissen, dass diese als mögliche Rahmungen begriffen werden können und nicht als absolute Kategorisierungen, die in die Bilder eingeschrieben werden. Nach der DDR blicken wir auf die offizielle Pressefotografie, gelenkt und zensiert und den öffentlichen Raum, Zeitungen und Zeitschriften füllend, heute in Archiven und vor allem im Fokus bildwissenschaftlicher, historischer und künstlerischer Forschungen. Hier drängt sich die Frage auf, was ein autoritärer Staat mit dem fotografischen Bild macht. Verallgemeinernd lässt sich festhalten: Er vereinnahmt es, macht es sich nutzbar, funktionalisiert es. Fotografien, die nicht individuelle Bildsprachen und subjektiv gesehene Wirklichkeiten reproduzierten, sondern Bilder, die die Wirklichkeit zeigten, wie sie sein sollte, umgaben die Menschen in der DDR über viele Jahre. An die Fotografie wurde der Anspruch herangetragen, nicht etwaige Realitäten im Sozialismus zu reproduzieren, sondern eine Version dessen, wie sich der sozialistische Staat selbst ins Bild setzen wollte. Dieses Idealbild – oft didaktisch inszeniert, illustrativ, optimistisch, überhöht und einfach zu lesen – sollte eine positive Haltung zum Sozialismus zeigen und hatte Vorbildcharakter.2 Weiterhin blicken wir heute auf Fotografien, die Mitarbeitende der Stasi gemacht haben und die als Teil von umfassenden Akten und Dokumenten in Archiven und Gedenkstätten bewahrt, erforscht und Betroffenen wie auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Diese fotografischen Bildmassen wurden über eine gesellschaftliche und historische Aufarbeitung und Aufklärung hinaus in vergangenen Jahren Teil künstlerischer Aneignung. Künstler:innen, die selbst verschiedene Biografien haben und unterschiedlichen Generationen angehören, sind in die Archive gegangen, haben unter der Prämisse von individuell gesetzten Filtern recherchiert und Fotografien wie auch die Narrative dahinter neu betrachtet. Diese Praxis der Appropriation verschränkt das Lesen von Archiven oft mit einer zeitgenössischen künstlerischen Perspektive.3 Einen sehr hohen Stellenwert hatte die Amateur:innenfotografie der sogenannten Betriebs- und Amateurfotogruppen, da das »künstlerische Volksschaffen« nicht nur im Bereich des Schreibens (»Greif zur Feder, Kumpel!«), sondern auch im Bereich der Fotografie staatlich gefördert wurde und Teil der Kulturpolitik war. Prospektiv finden sich umfangreiche Konvolute sowie Motive und Genres. Die hohen Ansprüche an die Qualität führen heute teils zu einer Neubewertung dieser Fotografien.4 Ferner blicken wir auf private Fotografien aus unzähligen Familienalben, die mit persönlichen Erlebnissen und Erinnerungen verbunden sind. Jene, die diese Bilder erstellten, sind zugleich jene, die sie betrachte(te)n, wodurch den Fotografien eine bedeutende Rolle als komplexe und vielschichtige Zeitdokumente zugewiesen wird. Sie sind wichtige Zeugnisse für den Blick auf das eigene Leben und die alltägliche Umwelt, die auch zunehmend in den Fokus der Forschung rücken.5 Ebenso etablierte sich Fotografie im Kontext bildender Kunst. Die künstlerische Arbeit mit dem fotografischen Bild war Teil der Konzept- und Performancekunst – auch im Zusammenhang mit aktivistischer Kunst. Der menschliche Körper wurde unter anderem in seinem gesellschaftlichen Raum sowie mit Blick auf Geschlechterrollen und kulturelle Normen befragt. Die oftmals seriellen Arbeiten begegnen heute vor allem in Kunstausstellungen und -publikationen.6 Und wir stehen dem Gros der oft als Autor:innenfotografie bezeichneten Fotografie gegenüber.7 Sie wurde als Teil öffentlicher wie privater Sammlungen, in Besitz der jeweiligen Künstler:innen und teils in Nachlässen an vielen Stellen als Antipode zu offiziellen Bildwelten rezipiert und ist in jüngeren Jahren vor allem in Ausstellungen und Büchern zu sehen.8 Rückblickend wird die von vielen Autor:innen und Betrachtenden in diese Fotografien hineingelegte Kritik am System als eine gängige Bildsprache identifiziert. 1 So sind auch die Gespräche zwischen Christine Stephan-Brosch, Evelyn Krull, Gerdi Sippel bzw. May Voigts Witwer und Johanna Gerling wichtig: Sie fließen als wertvolle Aufzeichnungen von Erinnerungen in das vorliegende Projekt ein. Mein herzlicher Dank gilt Johanna Gerling, die ihr Wissen über die Fotografinnen mit mir teilte. 2 Vgl. die Ausstellung Farbe für die Republik. Auftragsfotografie vom Leben in der DDR 2014 im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Vgl. weiterhin Karin Hartewig, Alf Lüdtke (Hrsg.), Die DDR im Bild. Zum Gebrauch der Fotografie im anderen deutschen Staat, Göttingen 2004; Isabelle de Keghel, »Arbeit im Bild. Ambivalente normative Diskurse und Praktiken in der DDR-Pressefotografie«, in: Fotografieren in der DDR, hrsg. von Sigrid Hofer und Martin Schieder, Dresden 2014, S.12–26; Erasmus Schröter (Hrsg.), Bild der Heimat – die Echt-Foto-­ Postkarten aus der DDR, Berlin 2002. 3 Vgl. Jens Klein, Hundewege. Index eines konspirativen Alltags, Leipzig 2013; Tina Bara, Alba D’Urbano, Covergirl: Wespen-Akte: Geschichte(n) eines Bildes. Eine Erzählung, Leipzig 2019. 4 Vgl. Regine Schiermeyer, Greif zur Kamera, Kumpel! Die Geschichte der Betriebsfotogruppen in der DDR, Berlin 2015; DFG-Projekt Bildsehen, Bildhandeln. Die Freiberger Fotofreunde als Community of Visual Practice, Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, Dresden 2020. 5 Vgl. Sandra Starkes Dissertationsprojekt Private Fotoalben in der DDR (Arbeitstitel) am Potsdamer Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung, seit 2019. 6 Vgl. Ausstellungsreihe Bewußtes Unvermögen – Das Archiv Gabriele Stötzer, Galerie für zeitgenössische Kunst, Leipzig 2019–2020; Franziska Schmidt, Christin Öhler (Hrsg.), Gabriele Stötzer – Künstlerbücher 1982–88, Köln 2023; Anne König, Gabriele Stötzer (Hrsg.), Der lange Arm der Stasi. Die Kunstszene der 1960er, 1970er und 1980er in Erfurt – ein Bericht, Leipzig 2021. Vgl. weiterhin Ausst.-Kat. Medea muckt auf. Radikale Künstlerinnen hinter dem Eisernen Vorhang, Albertinum, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Köln 2019. Vgl. zur Rolle der Frau zwischen Erwerbs- und Familienarbeit die Tagung Zwischen Fließband und Küche. Fotografien von (Care-)Arbeit in DDR und BRD 1960 bis 1990, 24.–25.11.2022, Museum für Fotografie, Berlin. 7 Klaus Honnef prägte den Begriff 1979 nach Vorbild der französischen und amerikanischen Autorenfilmtheorie für die Berufsfotografie, doch in der Rezeption vereinnahmten Künstler:innen diese Bezeichnung für sich und so ging sie auf die künstlerische Fotografie über. 8 Vgl. Ausst.-Kat. The Freedom Within Us. East German Photography 1980–1989, Rencontres Arles, hrsg. von Sonia Voss, Köln 2019; Candice M. Hamelin, Behind Immaterial and Material Divides: East German Photography 1949–1989, Diss. University of Michigan, Ann Arbor 2016.

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