Leseprobe

12 Sei diese Kritik explizit, da so von den Urheber:innen der Fotografien intendiert, sei diese Kritik implizit, da allein eine Reproduktion dessen, was gesehen wurde, oder die Form, wie fotografiert wurde, nicht dem Bild entsprach, das sich der Sozialismus von sich selbst machen wollte. Das für viele Betrachter:innen Unerwartete wurde so auch vor dem Verschwinden bewahrt und überdeckte in der historischen Betrachtung die massenmediale Bilderflut einstiger offizieller Fotografie. Diese Lesart vieler Fotografien mag mintunter auch daran liegen, dass die 1990 nach dem Vorbild der Agentur Magnum Photos gegründete Kooperative Ostkreuz und deren Bildsprachen nahe am dokumentarischen Stil das visuelle Gedächtnis der DDR vielerorts prägen.9 Spätestens 20 Jahre nach dem Mauerfall setzte ein Ausstellungsboom ein, der sich der Kanonisierung wie auch einzelnen Fotograf:innen widmet und nicht wenigen unter ihnen eine Plattform bietet, um ihre Arbeiten nunmehr einer breiteren Öffentlichkeit zu zeigen, auch in umfassenden Monografien und Ausstellungsbüchern. Diese späteren Betrachtungen rücken das fotografische Universum der oft als »subversiv« und »feindlich-negativ« Stigmatisierten in den Fokus. Diese bewusste Bewegung nach außen war für viele so zuvor nicht Teil künstlerischer Arbeit. Doch inzwischen wissen wir: Nicht allen tut man recht, sie in der einen oder in der anderen dieser hier knapp skizzierten fotografischen Bildwelten zu verorten. Denn auf eine Besonderheit sei hingewiesen: Sie durchdrangen sich partiell. Die Fotografengruppe Jugendfoto Berlin etwa regte zu einem anderen fotografischen Bild in der Presse an. Viele als Autor:innenfotograf:innen Rezipierte publizierten ihre Arbeiten in Sibylle oder Das Magazin. Diese waren inmitten von Zensur Magazine, die eigenen visuellen und inhaltlichen Ansprüchen folgen wollten und immer wieder mit ihren Bildstrecken überzeugten – und auch für eine zunehmende Sichtbarkeit von fotografischen Bildern einstanden. Zudem fanden Fotograf:innen immer wieder innerhalb ihrer offiziellen Aufträge durchaus zu offenen Narrativen.10 Oder sie nahmen eine Doppelrolle ein, wie beispielsweise Ralf-Rainer Wasse: Als Freund der Künstlergruppe Clara Mosch beteiligte er sich an deren Aktionen und fotografierte diese. Zugleich war er als sogenannter Inoffizieller Mitarbeiter auf die Gruppe angesetzt und dokumentierte die Aktionen für die Stasi. Diese Ambivalenz und diese hybride Situation waren weder eine Seltenheit, noch ein Zufall, denn der Geheimdienst war auf Personen angewiesen, die in der Kunstszene vernetzt waren, um in bestimmte Kreise eindringen zu können.11 Zudem erstellten Künstler:innen aus Teilen ihrer Stasi-Akten später Kunstwerke, um sich so ihre eigenen Biografien wieder aneignen zu können, darunter etwa Christine Schlegel oder Cornelia Schleime.12 Oder sie bewegten sich wie die ausgebildete Studiofotografin Evelyn Krull mit Porträt- und Sachfotografie im eigenen Studio sowie mit freien, künstlerischen Projekten im eigenen Auftrag in verschiedenen Räumen, in denen Fotografie praktiziert wurde. Alle diese hier lediglich umrissenen Bildwelten laden zu unterschiedlichen Kontextualisierungen und Interpretationen ein. Die Fotografien erzählen für sich je eigene Wirklichkeiten und sprechen dabei andeutend wie deutlich über das Land, in dem sie aufgenommen wurden. Sie ermöglichen vielleicht erst in einer Zusammenschau und in der Summe aller Einzelnarrative mit allen denkbaren Perspektiven eine Annäherung an das, was von Ferne betrachtet die DDR im fotografischen Bild gewesen sein mag. 1 | Christine Stephan-Brosch · Selbst · o. J. 9 Annette Vowinckel, Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20.Jahrhundert, Göttingen 2016, insbes. S.340– 357, hier S.356–357. 10 Sibylle Bergemann begleitete für ihre Serie Das Denkmal von 1975 bis 1986 – erst aus Freundschaft und später im Auftrag des Ministeriums für Kultur der DDR – die Entstehung von Ludwig Engelhardts Bronzeskulptur von Marx und Engels von den ersten Skizzen bis zum Aufbau. Bei dem viel rezipierten Werk muss immer auch der Kontext mitgelesen werden, in dem es auftaucht, denn die offenen, sehr bewusst aufgenommenen und noch bewusster selektierten 22 Bilder lassen viele Lesarten zu. Allein der schwebende Engels bei den Aufbauarbeiten lässt sich gleichermaßen als Bild des Aufbaus und des Abbruchs, als Blick in die Vergangenheit und ebenso in die Zukunft interpretieren (vgl. Jan Wenzel, »Das Denkmal«, in: Ausst.-Kat. Sibylle Bergemann – Stadt Land Hund. Fotografien 1966–2010, hrsg. von Thomas Köhler und Katia Reich, Berlinische Galerie, Berlin 2022, S.158–173, hier S.171). Vgl. weiterhin Adelheid Komenda, Sebastian Lux, »Lizenz zum Fotografieren. Die Autonomisierung eines Mediums«, in: Ausst.-­ Kat. Deutschland um 1980. Fotografien aus einem fernen Land, hrsg. von Jens Bove, Sebastian Lux und Thorsten Valk, LVR-LandesMuseum Bonn, München 2022, S.15–17, hier S.15. 11 Sylvia Sasse, »›Inoffiziell wurde bekannt ...‹ – Die Doppel-Performance der Dokumente«, in: Artists & Agents. Performancekunst und Geheimdienste, hrsg. von Kata Krasznahorkai und ders., Hartware MedienKunstVerein Dortmund, Leipzig 2019, S.146–160, hier S.147–148. 12 Vgl. Christine Schlegel, Eingeschweißte Überwachung, 1999, Zyklus von zwölf Collagen, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig; Cornelia Schleime, Stasi-Serie, 1993, 15 Fotografien auf Siebdruck, im Besitz der Künstlerin.

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