126 Händler, Sammler und Verfolgte im Nationalsozialismus Kontextualisierung – »Kein Händler im gewöhnlichen Sinn« Um die Hintergründe und die Herausbildung der charakteristischen Händlereigenschaften Julius Carlebachs verstehen zu können, ist zunächst eine Kontextualisierung der ihn prägenden Faktoren seiner Sozialisation und seines Werdegangs als Kunsthändler notwendig. Als im Jahr 1909 geborener ältester Sohn des Bankiers und amtierenden Vorstehers der jüdischen Gemeinde in Lübeck Alexander Carlebach (1876–1925) sowie der aus Moskau stammenden Bankierstochter Sonja Persitz (1887– 1955) wuchs Julius Carlebach inmitten des assimilierten jüdischen Großbürgertums der alten Hansestadt auf.8 Das in diesen Kreisen zu verortende Familiennetzwerk der Carlebachs behauptete sich besonders im Zuge des Ersten Weltkriegs als von Lübeck ausgehende neoorthodoxe Rabbinerdynastie, die nachfolgend wie kaum eine andere Familie das deutsche und internationale Judentum zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägte.9 Damit nahmen die Carlebachs eine gewisse Vorbildfunktion ein, die auch bei Nicht-Juden für Anerkennung sorgte. So übernahm beispielsweise Reichspräsident Paul von Hindenburg (1847–1937) im Jahre 1928 die Ehrenpatenschaft für Sara Carlebach – Tochter des Hamburger Oberrabbiners Joseph Carlebach10 und Cousine von Julius Carlebach.11 Mit dem verstärkten Aufkommen antisemitischer Tendenzen in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre lässt sich innerhalb des Familiennetzwerkes und auch bei Julius Carlebach ein sich entwickelnder politischer Aktivismus feststellen. So berichtete er 1926 beispielsweise schon im frühen Alter von 17 Jahren in Briefen an Verwandte emotional erregt über antisemitische Tendenzen im Reichstag oder seine Teilnahme an einer Versammlung der Lübecker Bürgerschaft im Mai 1926, bei der es zur Absetzung des Lübecker Bürgermeisters und deutschnationalen/alldeutschen Politikers Andreas Neumann (1865–1928) kam: Oceanic and Pre-Columbian Art, Including Property from the Lerner, Shoher and Vogel Collections, 11. 5. 2012, S. 178–179; sowie Di Donna Galleries (Hrsg.): Moon Dancers. Yup’ik Masks and the Surrealists, Ausstellungskatalog zu »Moon Dancers: Yup’ik Masks and the Surrealists« aus dem Frühjahr 2018, New York 2018. 8 Carlebach, Esther: Meinem lieben Manne zum 70. Geburtstag. Daten von Amts- und Familien-Erlebnissen, Lübeck 1915; siehe ebenso Stern, Moritz (Hrsg.): Festschrift zum vierzigjährigen Amtsjubiläum des Herrn Rabbiners Dr. Salomon Carlebach in Lübeck: (16. Juli 1910 …; gewidmet von Freunden und Verwandten), Lübeck 1910; sowie Heinemann, Rebecca: Jüdische Kindheits- und Erziehungsvorstellungen seit dem 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik, in: Sektion Historische Bildungsforschung der Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft in Verbindung mit der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (Hrsg.): Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 2013. Schwerpunkt Avantgarden, Bd. 19, Bad Heilbrunn 2013, S. 169–197. 9 Carlebach, Naphtali: The Carlebach Tradition. The History of My Family, hrsg. von THE JOSEPH CARLEBACH MEMORIAL FOUNDATION, Inc., New York 1973, S. 110–111; siehe ebenso Ephraim Carlebach Stiftung (Hrsg.): Die Carlebachs. Eine Rabbinerfamilie aus Deutschland, Hamburg 1995, S. 124–135; Grünberg, Wolfgang: Das Erziehungskonzept Joseph Carlebachs, in: Günter Brakelmann et. al. (Hrsg.): Pastoraltheologie. Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft, 83. Jg., Göttingen 1994, S. 391–401; Brocke, Michel/Carlebach, Julius (Hrsg.): Biographisches Handbuch der Rabbiner, Teil 2: Die Rabbiner im Deutschen Reich 1871– 1945, München 2009, Eintrag Carlebach, S. 112–113; sowie Imhoff, Sarah: Carlebach and the Unheard Stories, in: American Jewish History, Bd. 100, Nr. 4 (Oktober 2016), S. 555–560. 10 Brämer, Andreas: Joseph Carlebach, Hamburg 2007; siehe ebenso Carlebach, Hartwig Naphtali: Joseph Carlebach and his generation: biography of the late Chief Rabbi of Altona and Hamburg, New York 1959. 11 Anonym.: Zeitungsmeldung, in: Der Israelit. Ein Zentralorgan für das orthodoxe Judentum, 70. Jg. (1929), Heft 9, S. 5; sowie Anonym.: Zeitungsmeldung, in: Allgemeines Jüdisches Familienblatt. Wochenblatt für die gesamten Interessen des Judentums, 10. Jg. (1929), Heft 9, S. 1.
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