Leseprobe

266 Neue Ansätze und spezifische Forschungsfragen Geplündert wurden nicht nur Lebensmittel, sondern auch andere Konsum- und Gebrauchsgüter, die in den jeweiligen Ländern noch zu haben waren. Der Schriftsteller Heinrich Böll (1917–1985), der als Besatzungssoldat in Frankreich eingesetzt war, schilderte in dem 1958 veröffentlichten Werk »Brief an einen jungen Katholiken«, »wie Angehörige seiner Einheit in Frankreich Bettwäsche, Decken, Spielzeug aus leerstehenden Häusern raubten, päckchengerecht zerlegten und nach Hause schickten«.5 Wie Götz Aly herausarbeitete, mussten die deutschen Soldaten in den besetzten Ländern Europas oft gar nicht zum Mittel der entschädigungslosen Plünderung greifen: » Deutsche Soldaten kauften die Länder Europas buchstäblich leer. Sie verschickten Millionen Feldpostpäckchen von der Front in die Heimat. Adressaten waren hauptsächlich Frauen [...]: Schuhe aus Nordafrika, aus Frankreich Samt und Seide, Likör und Kaffee, Tabak aus Griechenland, Honig und Speck aus Russland, Heringe en masse aus Norwegen, von den Gaben aus Rumänien, Ungarn und zuletzt Italien nicht zu reden. «6 Diese hemmungslose Kaufwut förderte das NS-Regime durch die Herabsetzung der Wechselkurse für die lokalen Währungen zur Reichsmark noch künstlich. Für Wehrmachtsoldaten war das Einkaufen in allen besetzten Gebieten sehr billig, und sie kauften nicht nur für sich, sondern auch für ihre Verwandten und Freunde zu Hause. Dabei handelte es sich vor allem um Lebensmittel. Diese Zusatzrationen entschärften den verwalteten Mangel des Systems der Lebensmittelkarten entscheidend – besonders auf Kosten der Bevölkerung in den besetzten Ländern. Für die einheimische Bevölkerung wurden viele Waren durch die künstlich ausgelöste Inflation einerseits unerschwinglich und auch nicht mehr verfügbar, da die Geschäfte sich leerten: » Bepackt mit schweren Paketen fuhren die deutschen Soldaten vom Gare de l’Est in den Heimaturlaub, ihr Gepäck war mit Damenwäsche gefüllt, mit Pariser Spezialitäten aller Art mit Luxusgütern handelte es sich um viele kleine Einkäufe, doch schadeten sie der französischen Volkswirtschaft erheblich. Deshalb entwickelten sich Schwarzmarkt und Inflation, deshalb wurde es für die einfachen Franzosen immer schwieriger, das Lebensnotwendige einzukaufen. «7 Im Juli 1943 tätigten deutsche Soldaten in Frankreich private Einkäufe in Höhe von 125 Millionen Reichsmark. Auf Anordnung von Hermann Göring (1893–1946) wurden jegliche Einkaufslimits vollkommen aufgehoben. Bis zu einem Gewicht von einem Kilogramm und mit einer Toleranz von 20 Prozent war die Beförderung der Päckchen gratis. Für Fronturlauber formulierte Göring den »Schlepperlass«: Jeder Soldat durfte nach Hause mitnehmen, was er allein »schleppen« konnte.8 5 Zitiert nach: Götz, Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M. 2006, S. 128. 6 Ebd., S. 116–117. 7 Ebd., S. 119. 8 Ebd., S. 125.

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