Leseprobe

Brieflesendes Mädchen am o enen Fenster V E R M E E R

JOHANNES VERMEER Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster Herausgegeben von Uta Neidhardt und Christoph Schölzel für die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister Sandstein Verlag Restaurierung und maltechnische Untersuchungen

Inhalt 6 Holger Jacob-Friesen Vorwort 15 Uta Neidhardt »... une Jeune fille qui lit vis à vis d’une fenêtre ...« Johannes Vermeers Dresdner Briefleserin nach ihrer Restaurierung 2017 bis 2021 27 Christoph Schölzel Die Restaurierung des Gemäldes Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster von Johannes Vermeer 39 Jørgen Wadum Lost in Transformation Die überarbeiteten Gemälde von Johannes Vermeer 51 Christoph Schölzel, Christoph Herm, Annegret Fuhrmann Zur Maltechnik des Gemäldes Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster von Johannes Vermeer 79 Anna Krekeler, Annelies van Loon, Ige Verslype Außergewöhnliche Einblicke Was die bildgebende Makroskopische Röntgenfloureszenzanalyse verrät über Material, Zustand und Entstehung von Vermeers Gemälde Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster 101 Christoph Schölzel, Daniel Lordick, Christoph Herm Johannes Vermeers Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster in einem Guckkasten – ein Experiment 114 Atlas Anhang 138 Bibliografie 142 Autorenverzeichnis 143 Abbildungsverzeichnis 144 Impressum

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15 I Johannes Vermeers Dresdner Gemälde Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster (um 1657–1659) ist einem weltweiten Publikum vertraut (Abb. 1). Es wird als Kunstwerk bewundert, verehrt und verinnerlicht – nach der kürzlich erfolgten Restaurierung, die sein Erscheinungsbild wesentlich verändert hat,2 ebenso wie schon jahrhundertelang zuvor in seiner früheren Gestalt. Die Suggestivkraft und Ausstrahlung dieses Gemäldes erklärt sich aus Vermeers außergewöhnlichem künstlerischen Vermögen, alltägliche Szenen in beeindruckender Lebensnähe wiederzugeben. Beginnend mit der Dresdner Briefleserin schuf er seit Ende der 1650er Jahre Interieurbilder mit Einzelfiguren oder kleinen Gruppen, in denen er die gepflegten Beschäftigungen einer eleganten holländischen Mittelschicht in scheinbar perfektem Realismus schilderte. Die vermeintlich wirklichkeitsgetreue Wiedergabe des gehobenen Alltags in der Republik der Vereinigten Niederlande stellte in der Mitte und der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine besondere Spielart der bürgerlichen Genremalerei dar. Mittels einer nie zuvor dagewesenen handwerklichen Perfektion, Detailliertheit und Raffinesse schufen Maler wie Gerard ter Borch, Gabriel Metsu, Gerard Dou, Jan Steen, Pieter de Hooch und – ganz besonders – Johannes Vermeer Bilder des bürgerlichen Lebens, in denen sie eine überzeugende Illusion der Wirklichkeit hervorbrachten. Der Vergleich der Gemälde Vermeers mit themengleichen Darstellungen seiner Künstlerkollegen zeigt allerdings, in welchem Maße sie sich von deren Werken unterscheiden (Abb. 2).3 In ihrer großen Ruhe, Harmonie und Konzentration gehen Vermeers Innenraumbilder mit Einzelfigur über die erzählerischen, zuweilen anekdotischen Schilderungen seiner Zeitgenossen weit hinaus; oft tragen sie eine betont symbolische oder allegorische Bedeutung. Wie wir erst seit der 2021 vollendeten Restaurierung wissen, gilt dies in besonderem Maße auch für das Brieflesende Mädchen am offenen Fenster. Spätestens seit der Freilegung des Cupido-Bildes an der Rückwand des Raumes ist deutlich, dass Vermeer auch in diesem Werk in eine scheinbar unverfängliche Alltagssituation eine Aussage über die Liebe eingewoben hat. Uta Neidhardt »...une Jeune fille qui lit vis à vis d’une fenêtre...«1 Johannes Vermeers Dresdner Briefleserin nach ihrer Restaurierung 2017 bis 2021 Abb. 2 Pieter de Hooch, Die Goldwägerin um 1664, Öl auf Leinwand, 61 × 53 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, Inv.-Nr. 141B Abb. 1 Johannes Vermeer Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster um 1657–1659, Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1336

16 In ihrer früheren, durch die fremde Übermalung im Hintergrund verfälschten Erscheinungsweise hatte sich das berühmte Dresdner Werk seit langem ins Bildgedächtnis der Öffentlichkeit fest eingeschrieben (Abb. 3). Die Komposition mit der zierlichen Frauengestalt im Profil vor einer kahlen, hellen Wand steigerte ihre Wirkung ins Ikonenhafte und verlieh dem Gemälde eine beinahe meditative Wirkung. Zahllose Reproduktionen dieses – nachträglich veränderten – Bildes in deutschen Wohnzimmern sprachen und sprechen für dessen große Anziehungskraft und Beliebtheit. Seit etwa drei Jahren ist die Öffentlichkeit nun mit einem restaurierten Gemälde konfrontiert,4 dessen Verwandlung sowohl Zustimmung und Begeisterung als auch Enttäuschung und Unverständnis hervorgerufen hat. Eine statistische Erhebung 5 der Website Essential Vermeer 3.0 ergab, dass 44 Prozent der mehr als 6 000 Nutzer, die sich zu der Frage »Was sind deine Gefühle zum restaurierten Brieflesenden Mädchen am offenen Fenster« geäußert hatten, das Gemälde vorher schöner fanden und/oder unseren Untersuchungsergebnissen, die zur Abnahme der Übermalung führten, nicht glaubten. Mehr als die Hälfte akzeptierte allerdings die Abnahme der Übermalung als Ergebnis umfassender wissenschaftlicher Analysen und der Empfehlung einer internationalen Expertenkommission. Offenbar entsprach das Gemälde in seiner früheren, veränderten Gestalt stärker unseren modernen Sehgewohnheiten als das in seine Urfassung zurückgeführte Original – vermutlich ein Grund für die Missbilligung so mancher Betrachter. Nicht weniger interessant ist die besagte Statistik im Hinblick auf das Vertrauen in die restauratorischen, natur- und kunstwissenschaftlichen Forschungen der involvierten Experten (Abb. 4).6 Denn mit 56 Prozent aller sich dazu äußernden Nutzer war immerhin eine knappe Mehrzahl der Befragten trotz der neuen, ungewohnten Seherfahrung davon überzeugt, dass in Dresden im Sinne Vermeers die richtige Entscheidung getroffen worden war. In der Dresdner Ausstellung »Johannes Vermeer. Vom Innehalten« machten wir 2021 eine weitere wichtige Erfahrung: Besucher, die sich zur Abnahme der Übermalung in der Briefleserin zunächst ablehnend oder zweifelnd äußerten, gewannen in der Ausstellung eine neue Sicht auf das restaurierte Gemälde. Dies war möglich durch den direkten Vergleich mit den anderen dort gezeigten Werken Vermeers (Abb. 5),7 insbesondere aber durch die Neubegegnung mit dem Original, durch die Rezeption der in einem Kabinett zusammengestellten restauratorischen Befunde und naturwissenschaftlichen Grundlagen für die getroffene Entscheidung sowie durch mediale, vertiefende Vermittlungsangebote zum Thema (Abb. 6).8 Vor diesem Hintergrund erschien eine umfassendere Darstellung und Kommentierung dieser außergewöhnlichen Restaurierung, als sie im Ausstellungskatalog von 2021 Aufnahme finden konnte, lohnenswert und geboten. Auch die kunsthistorische Diskussion ging seit Jahrzehnten davon aus, in dem früheren Zustand von Vermeers Dresdner Briefleserin ein vom Künstler im Abb. 3 Johannes Vermeer Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster Zustand vor der Restaurierung Abb. 4 Mitglieder der Expertenkommission bei der Untersuchung des Gemäldes, 9.September 2021

17 Laufe eines längeren Arbeitsprozesses mehrfach verändertes, in allen Arbeitsschritten eigenhändiges Werk zu sehen.9 Zweifel an der damals sichtbaren Komposition, die man als Ausdruck der Perfektion eines begabten jungen Malers bewunderte, bestanden nicht, weder in Dresden noch in der internationalen Fachwelt.10 Die vorliegende Publikation enthält daher Forschungs- und Untersuchungsergebnisse, die das restaurierte Gemälde aus der Sicht der in einem 2017 begonnenen Projekt zusammenarbeitenden Restauratoren, Naturwissenschaftler, Kunsthistoriker, Mathematiker und IT-Experten mehrerer europäischer und amerikanischer Institutionen betrachtet. Sie soll das Gemälde Vermeers noch umfassender beschreiben, den Prozess seiner Entstehung klären und die Dresdner Entscheidung zur Abnahme der späteren Übermalung für Fachkollegen und Öffentlichkeit transparent und nachvollziehbar machen. II Der erste Hinweis zur Ankunft des Gemäldes Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster in Dresden findet sich in einem 1742 datierten Brief des Sekretärs der Sächsischen Gesandtschaft und offiziellen Kunstagenten in Paris, Samuel de Brais, an den sächsischen Premierminister Graf Heinrich von Brühl. De Brais kündigte dem Premierminister die Sendung eines 30 Werke umfassenden Gemäldekonvoluts an, das durch Vermittlung des Pariser Kunsthändlers Noël Araignon für die Sammlung des sächsischen Kurfürsten und Königs von Polen, August III., zusammengestellt worden war. Er ergänzte, dass der Händler ihm als kostenlose »Zugabe« ein Werk Rembrandts mitschicken würde, das er folgendermaßen beschrieb: »Dans le nombre des tableaux que Votre Excellence recevra il y en a un Rembrant representant une Jeune fille qui lit vis à vis d’une fenêtre [...]«,11 eine Darstellung also mit einem »junge[n] Mädchen, das gegenüber einem Fenster liest«. Dass es sich dabei sowohl aus der Sicht des Spenders als auch für den Empfänger um eine sehr großzügige Gabe gehandelt haben muss, dafür spricht die falsche Zuschreibung an Rembrandt, die vor dem Hintergrund von Vermeers relativer Unbekanntheit zu jener Zeit und des verfälschten Erscheinungsbildes der Briefleserin durchaus nachvollziehbar ist. Von einem Liebesgott Abb. 5 Ausstellung »Johannes Vermeer. Vom Innehalten«, 10. September 2021– 2. Januar 2022 in der Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Ausstellungssituation Abb. 6 Weborello zur Ausstellung »Johannes Vermeer. Vom Innehalten« Digitales, interaktives Informationsmedium zur Vor- und Nachbereitung des Ausstellungsbesuchs

18 an der Wand ist in der kurzen Bildbeschreibung keine Rede – ein Hinweis darauf, dass die großflächige Übermalung im Hintergrund der Briefleserin vermutlich bereits vor der Ankunft des Werkes in der Gemäldesammlung Augusts III. ausgeführt worden sein muss.12 Seiner hohen Wertschätzung entsprechend fand das Bild zunächst Aufnahme im privaten Bilderkabinett des Kurfürsten von Sachsen im Dresdner Residenzschloss.13 Nach dessen Auflösung überführte man es 1816 in die königliche Gemäldegalerie im Stallgebäude am Jüdenhof.14 Vermeers Briefleserin zählt damit zu den ganz wenigen bereits im frühen 19. Jahrhundert öffentlich zugänglichen Werken des lange Zeit vergessenen Malers. Seit der Eröffnung der von Gottfried Semper im Jahr 1855 neuerrichteten Gemäldegalerie war das Gemälde Teil der Dauerausstellung15 und verblieb dort bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Während der Kriegsjahre lagerte die Briefleserin unversehrt zunächst in der Albrechtsburg in Meißen, später in einem Sicherheitsdepot auf der Festung Königstein in der Sächsischen Schweiz. Von dort wurde das Bild gemeinsam mit nahezu allen Kunstwerken der damaligen Staatlichen Sammlungen für Kunst und Wissenschaft Dresden als Kriegstrophäe in die UdSSR transportiert und kehrte 1955 in die DDR zurück. Seit Juni 1956 gehört das Brieflesende Mädchen am offenen Fenster zum Kernbestand der permanent ausgestellten Werke der wiedereröffneten Gemäldegalerie Alte Meister im Semperbau am Dresdner Zwinger. III Durch die von 2017 bis 2021 erfolgte Restaurierung haben sich nicht nur die Komposition und die Licht- und Farbstimmung des Brieflesenden Mädchens, sondern auch seine Ausstrahlung und künstlerische Aussage grundlegend gewandelt. Das frühe Hauptwerk Vermeers zeigt sich nun in seinem hervorragenden Erhaltungszustand in einer Gestalt, in der es der Intention seines Schöpfers sehr nahekommt. Vermeer schilderte eine junge Leserin vor einem geöffneten Fenster in der Ecke eines reich ausgestatteten Raumes. Ein illusionistisch gemalter grüner Vorhang verbirgt den Bildausschnitt rechts zu beinahe einem Drittel. Ein breiter, mit einem orientalischen Teppich und einer obstgefüllten chinesischen Porzellanschale dekorierter Tisch steht quer im Raum, sodass die vordere Tischkante über dem unteren Bildrand erscheint. Als optische Barriere erschwert er gleichsam den Zugang zum intimen Raum des Mädchens. An der Wand hängt ein großformatiges Bild in einem breiten schwarzen Rahmen. Es zeigt einen aufrecht stehenden, geflügelten Knaben, der sich auf seinen Bogen stützt und seinen linken Arm erhoben hat. Das dekorative Cupido-­ Gemälde nimmt den größten Teil der im Bildausschnitt wiedergegebenen hinteren Wandfläche ein. Ausgehend von der Horizontlinie ist jede der Bildhälften von einer der beiden Figuren dominiert. Das Bild des nackten, drallen Liebesgottes erreicht beinahe die Größe der hinter dem Tisch sichtbaren Dreiviertelfigur der Leserin. Die junge Frau im Profil hat sich der Fensteröffnung zugewandt, um den Brief, den sie mit beiden Händen hält, bei gutem Licht lesen zu können. Ihre silhouettenhafte Erscheinung hebt sich von der hell gekalkten Wand ab, während die Kontur ihres leicht geneigten Kopfes durch den dunkelbraunen Bodenbereich in der linken unteren Ecke des Amor-Bildes betont wird (Abb. 8). Ihr gepflegtes zweiteiliges Kleid in auffälligem Schwarz-Gelb mit weißem Brusttuch, ihr Kopf mit der sanft geschwungenen Stirn- und Nackenlinie und dem ebenmäßig schönen Gesicht mit gesenktem Blick sowie die raffinierte, von zwei schmalen Bändern gehaltene Steckfrisur mit langen Schläfenlocken – all dies macht sie zu einer anmutigen Gestalt von erlesener Eleganz. Im Vergleich zu dem Zustand vor der Restaurierung hat die Komposition eine erhebliche Verdichtung erfahren. Diese bewirkt, dass die zarte Gestalt der Briefleserin zwischen dem blauen Rahmen des bleiverglasten, nach innen geöffneten Fensters, dem dunklen Schmuckrahmen des Cupido-Bildes, dem spanischen Stuhl in der Ecke und dem breiten Tisch im Vordergrund wie am Ort fixiert erscheint. In der beinahe drängenden Fülle in der Zimmerecke wird sie gleichzeitig gehalten und in ihren Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt. Während ihre Position direkt gegenüber der Fensteröffnung im Raum genau definiert ist, blieb Vermeer bei der Schilderung der linken hinteren Raumecke vage. Sie wird von der Scheibe, dem darüberhängenden roten Fenstervorhang und einem schräg gestellten spanischen Stuhl verdeckt. Erst nach der Restaurierung wird nun deutlich, wie der blaue Fensterrahmen den breiten schwarzen Rahmen an der Rückwand knapp überschneidet. Der Umgang mit ungewohnten Überschneidungen, großen Formen und betonten Kanten gehört seit Vermeers Schlafendem Mädchen (um 1656/57, New York, The Metropolitan Museum of Art, Abb. 7) zu den wiederkehrenden Stilmitteln in seinen Interieurbildern.16 Ein starkes Element der

19 Verhüllung führte Vermeer mit dem illusionistisch gemalten grünen Vorhang an der rechten Bildseite in seine Komposition ein. Die beiden Stoffbahnen, die sich beim Aufschieben des Vorhangs offenbar übereinandergelegt haben, werden an Ringen befestigt an einer Stange geführt. Der Stoff verwehrt dem Betrachter nicht allein den Blick in einen erheblichen Teil des Raumes, er verdeckt auch die rechte Seite des Cupido-Bildes an der Wand. Bereits in dieser frühen Genreszene erweist sich Vermeer als ein Meister der Lichtregie. Mittels einer überzeugenden Licht-Schatten-Modellierung schilderte er die Dinge des Alltags so, dass sie real erscheinen. Das Licht entfaltet auf dem Noppenflor des zu einem Faltenberg aufgeworfenen Teppichs ein wahres Feuerwerk aus leuchtenden Farbpunkten in Rot, Blau, Gelb, Schwarz und Weiß. Mit seinem charakteristischen Mittelmedaillon und dem blauen Rankenwerk auf rotem Grund ist der Teppich als türkischer Medaillon-Uschak identifiziert worden.17 Auf der Schale aus chinesischem Kraak-Porzellan lässt das Sonnenlicht die kühle, blauweiße Abb. 7 Johannes Vermeer Schlafendes Mädchen um 1656/57, Öl auf Leinwand, 87,6 × 76,5 cm, New York, The Metropolitan Museum of Art, Schenkung Benjamin Altman 1913, Inv.-Nr. 14. 40. 611

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27 Einleitung Das seit dem 18. Jahrhundert durch Quellen belegte Erscheinungsbild des Brieflesenden Mädchens am offenen Fenster in Dresden, das auch in den Galeriekatalogen und in der kunstwissenschaftlichen Literatur immer wieder beschrieben ist, ließ bis zur jüngsten Restaurierung keinen Zweifel an der Authentizität der Malerei Vermeers aufkommen. Sieht man von der generellen Unsicherheit bei der Zuschreibung des Bildes bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ab, so könnte einzig ein überlieferter Satz aus seiner Restaurierungsgeschichte aus heutiger Sicht Zweifel an der Beschaffenheit und am Erhaltungszustand der Malerei ausgedrückt haben. Eine Bearbeitung des Bildes im Jahr 1838 ist mit einer kurzen handschriftlichen Notiz sowohl in einem Dienstexemplar des Galeriekatalogs des Galeriedirektors Friedrich Matthäi als auch auf einem heute sehr beschädigten Zettel auf der Rückseite des Schmuckrahmens dokumentiert. Im Matthäi-Katalog heißt es in der Anmerkung zu dem Jungen Mädchen am Fenster Nr. 603, von dem man damals annahm, es sei ein Werk von »Peter de Hooghe« (Pieter de Hooch): »603 ist 1838 sorgfältig gereinigt, auch an mehreren schadhaften Stellen ausgebessert und gefirnißt worden; war aber gewiß schon früher unter den Händen eines Restaurators gewesen«1 (Abb. 2, 3). Die Notiz ist zu kurz, um daraus ablesen zu können, ob dem damaligen Restaurator (zu dieser Zeit waren die beiden Inspektoren Johann August Renner und Carl Martin Schirmer in der Galerie tätig) aufgefallen war, dass ein beträchtlicher Teil des Bildes übermalt ist und nicht die Intention des Künstlers zeigt. Bei einer kleinen, dokumentierten Bearbeitung im Jahr 1868 »[a]m Vorhang und an der Fensterseite«2 kam ebenfalls kein Verdacht auf, wie auch einhundert Jahre später der Chemiker Hermann Kühn bei der Erforschung der Grundierungen und Farben Vermeers und den damit zusammenhängenden Farbproben nicht an der vermeintlichen Echtheit der Farbschichten zweifelte. Kühn präparierte neun Proben aus dem Bild, von denen drei die Situation an den Rändern hätten zeigen können.3 Erst 1979 gewährte eine Röntgenaufnahme, die während einer Ausstellung Dresdner Meisterwerke in San Francisco von dem Gemälde angefertigt worden war, Einblicke in tiefer liegende Farbschichten. Man sah nun den großen Cupido im Hintergrund und das ebenfalls große Römerglas in der unteren rechten Bildecke. Auch eine leichte Drehung des Körpers des Mädchens konnte aus der Röntgenaufnahme Die Restaurierung des Gemäldes Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster von Johannes Vermeer Christoph Schölzel Abb. 2 Friedrich Matthäi, Verzeichnis der königlich Sächsischen Gemälde-Galerie zu Dresden, Dresden 1835, S. 116, handschriftlicher Eintrag zu KatalogNr. 603, Detail Abb. 1 Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, Detail während der Firnisabnahme Abb. 3 Reste einer Restaurierungsnotiz auf der Rückseite des Rahmens

28 abgelesen werden. Annaliese Mayer-Meintschel aus Dresden und Arthur Wheelock aus Washington veröffentlichten fast zeitgleich diese Befunde.4 Beide konnten sich die Anwesenheit des Hintergrundbildes und des Römerglases nur so erklären, dass diese zu einem frühen Entwicklungsstadium des Bildes gehörten und dass der Vorhang, der diese Details teilweise überdeckt, einem späteren Stadium der Malerei zuzurechnen sei. Mayer-Meintschel gab zugleich eine Erklärung der Befunde, indem sie resümierte: »Beide Attribute, den Cupido als auch den Römer hat Vermeer dann wieder zugemalt.«5 Einem Topos gleich wurden diese spannenden Befunde fortan in die Vermeer-Literatur mit aufgenommen und erlangten eine noch weitere Verbreitung als beispielsweise das Wissen um eine verdeckte Landkarte im Berliner Bild Junge Dame mit Perlenhalsband.6 Auch nachfolgende materialtechnische Untersuchungen am Bild, so 1994 von Marlies Giebe und Uta Neidhardt7 und 2009/10 durch den Autor,8 akzeptierten die gebräuchliche Lesart und stellten keine Fragen zur Originalität eines Viertels der Bildfläche. Über die Jahrhunderte hatte man sich an das Brieflesende Mädchen in Dresden gewöhnt, sodass keine noch so intensive Bildanalyse an dessen Erscheinungsbild Anstoß nahm. Restaurierung Neben den Untersuchungen stand eine komplexe Restaurierung des Gemäldes seit langer Zeit auf der Agenda der für die Sammlungsbetreuung zuständigen Gemälderestaurierungswerkstatt. Das Bild wurde im Jahr 2003 zu einer Sonderausstellung nach Madrid ausgeliehen und zwei Jahre später nach Japan geschickt. In Vorbereitung dieser Transporte bedurfte es der Festigung von kleinen Farbhebungen und der Ertüchtigung der Randverklebung mit der alten Doublierleinwand. Ein Treffen mit fünf nach Dresden eingeladenen Experten im März 2017 markierte den Beginn der Restaurierung und damit den Anfang einer besonderen Bild-Metamorphose.9 Im Mittelpunkt des Treffens standen die Erörterungen über den Erhaltungszustand des Bildes und die Restaurierungskonzeption.10 Diese Einschätzungen basierten auf vorausgegangenen Begutachtungen und auf einer Studie zur Restaurierungsgeschichte des Bildes.11 Zudem konnte auf die zurückliegenden Bilduntersuchungen von Herman Kühn,12 auf die Röntgenaufnahme, auf die 2009/10 durchgeführte Infrarotreflektografie,13 die mikroskopischen Untersuchungen und eine spezielle Leinwandstrukturanalyse14 zurückgegriffen werden. Die Zusammenkunft endete mit der einhelligen Befürwortung einer umfassenden Restaurierung und unterstützte damit wesentlich die Entscheidung der Galerieleitung für dieses Vorhaben (Abb. 5). Die ersten Arbeiten am Bild, abgesehen von der zuvor begonnenen ausführlichen fotografischen Dokumentation,15 bestanden in der Entfernung des Firnisses – einer Naturharzschicht, die von der Restaurierung des Bildes 1838 stammen könnte und in den nachfolgenden 170 Jahren mehrere Überarbeitungen erfuhr (Abb. 4). Dafür kamen mit organischen Lösungsmitteln getränkte Wattefahnen zum Einsatz, die in rollender Bewegung die gelösten Firnisbestandteile aufzunehmen vermochten. Die Abnahme begann an der linken Bildkante und setzte sich Streifen für Streifen nach rechts fort (Abb. 6–8). Abb. 4 Detail mit zersetztem Firnis, Zustand 2009 Abb. 5 Treffen der Expertenkommission, 6. Mai 2019

Abb. 6–8 Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, Zustände während der Firnisabnahme Abb. 10 a + b Detail gelbes Gewand mit Schichtentrennung Abb. 9 Detail weiße Lichtkante des Vorhangs mit Farbschichtverlust

30 Durch die Entfernung der vergleichsweise dünnen Firnisschicht, die aber einen erheblichen Grad der Gelb-Braun-Verfärbung angenommen hatte, trat die Malerei Vermeers in einer erstaunlichen Frische hervor. Zugleich wurde der weitgehend unversehrte Erhaltungszustand des Bildes offensichtlich. Es gibt nur wenige kleine Farbverluste, die sich beispielsweise in Form einer Schichtentrennung im gelben Gewand oberhalb der Brust des Mädchens (Abb. 10a+b) und in der rechten oberen Ecke unterhalb der Vorhangstange befinden. An der weißen Lichtkante des Vorhangs, elf Zentimeter von der Stange entfernt, ist ein kleines Stück der sehr pastosen Farbe ausgebrochen (Abb. 9). Weiterhin sind kleine Farbverluste am oberen Teil des Fenstergewändes knapp unterhalb der Vorhangstange, am Fensterrahmen links oben und an der linken Kante des Teppichs vorhanden. Über dem blauen Fensterrahmen weist eine etwa zwei mal zwei Zentimeter große Stelle im roten Vorhang Abrieb an den oberen Farbschichten auf, was eventuell von einer früheren Abnahmeprobe herrühren könnte. Merkwürdigerweise ist die Farbschicht an der Signatur Vermeers, die der Künstler rechts neben dem Rock des Mädchens anbrachte, stark abgerieben. Dies könnte auf eine Manipulation oder auf früher durchgeführte Echtheitsprüfungen des Schriftzuges mit Alkohol hindeuten (Abb. 11, 12). Es finden sich zudem leichte Beeinträchtigungen der Farbschichten, die eventuell durch frühere restauratorische Behandlungen des Bildes hervorgerufen wurden, zum Beispiel am schwarzen Rock, im Hintergrund des Mädchens und besonders an der Wand oberhalb des Fensters. Um die Aufzählung der Farbschichtschäden zu vervollständigen, sei hier auch auf die bei der Abnahme der Übermalungsschichten zutage getretenen Stellen hingewiesen: Im Hintergrundbild mit dem Cupido gibt es einen alten Kratzer in der Farbschicht, der sich 2,5 Zentimeter parallel zum linken Oberarm hinzieht (Abb. 13). Die Entnahme von zwei Farbproben 2017 im Hintergrund links neben dem Kopf des Cupidos und in seiner Leistengegend hinterließ ebenfalls kleine Löcher in der Farbschicht. Weitere Farbverluststellen sind an den Bildrändern zu finden (vgl. Gesamtaufnahme im Atlas, S. 118, Abb. 3). Am linken Bildrand reihen sich diese Stellen im Abstand von zehn Zentimetern von der Unterkante aneinander und reichen teilweise bis zur Leinwand. In der linken unteren Ecke finden sich einige Farbverluste, während an der linken oberen Ecke Grundierung und Farbe bis zur Leinwand abgeschliffen sind. An der unteren und oberen Bildkante gibt es wenige kleine Verluste. Hingegen kommen am rechten Bildrand größere Bereiche mit ausgebrochener Farbe vor, die sich, beginnend zehn Zentimeter von der Unterkante, über eine Länge von ungefähr sieben Zentimetern erstrecken. An einer leicht verunklärten Partie im Teppich, rechts neben der Obstschale, sind die oberen Farbschichten ebenfalls etwas beeinträchtigt (vgl. S. 95, Abb. 11). Hier hatte der Maler das Teppichmuster zunächst für einen Löwenkopf ausgespart. Er sollte den Abschluss der Stuhllehne eines vor dem Tisch vorgesehenen spanischen Stuhles bilden. Als Vermeer diese Idee verwarf, füllte er die Stelle nur flüchtig mit dem Muster des Teppichs aus. Heute treten, infolge der Alterung der Farbschichten, zwei kleine Lichtreflexe, die ursprünglich an der linken Seite des Löwenkopfes aufblinken sollten, ohne Zusammenhang zur Darstellung auf dem rechts liegenden Pfirsich hervor.16 Das hier im Einzelnen beschriebene Schadensbild wurde durch die Firnisabnahme sichtbar. Bei dieser Maßnahme sind auch wenige ältere Retuschen entfernt worden. Darunter fanden sich teilweise nur sehr geringfügige Beschädigungen vor. Am linken Rand der übermalten Hintergrundfläche, dicht unter der Vorhangstange, war bei der Firnisabnahme zu bemerken, dass die oberen Farbschichten ganz anders auf die eingesetzten Lösungsmittel reagierten als die angrenzenden originalen. Diese Beobachtung, die sich an mehreren Abb. 11 Detail mit Resten der Signatur Vermeers Abb. 12 Nachzeichnung der Signaturreste Vermeers

31 Probestellen im Bereich zwischen dem Fensterflügel und dem Vorhang wiederholte, gab Anlass für eine Reihe naturwissenschaftlicher Untersuchungen, die Christoph Herm (Hochschule für Bildende Künste Dresden, Labor für Archäometrie) ausführte.17 Die Ergebnisse dieser Farbprobenuntersuchungen waren insofern erstaunlich, als sie die bisherige Lesart, die Übermalung des Hintergrundbildes sei von Vermeer vorgenommen worden, in Frage stellten: Insbesondere zwei Proben aus dem Bereich des Hintergrundbildes [Proben H8-Q, H9-Q vgl. S. 52, Abb. 3, Schema der Farbproben] erwiesen sich als entscheidend für eine neue Bewertung. Sie zeigten, dass über der elfenbeinfarbenen Grundierung und der dünnen originalen Farbschicht zwei Bindemittelschichten liegen. In der abgebildeten Probe H9-Q (S. 56, Abb. 9 a + b) ist zwischen diesen Bindemittelschichten eine dünne, dunkle Schicht zu erkennen, die als Schmutzschicht angesehen werden kann. Über diesen Bindemittelschichten, die hauptsächlich Naturharz enthalten und somit als alte Firnisschichten zu interpretieren sind, folgen zwei Schichten Übermalungsfarbe. Ganz oben befindet sich noch der Firnis, der in diesem Bereich erst nach der Probennahme entfernt wurde. Das besondere Interesse richtete sich nun auf die Bindemittelschichten zwischen der originalen und der Übermalungsfarbschicht. Da sich bei der Firnisabnahme auch gezeigt hat, dass alle vier Ränder des Gemäldes ebenfalls übermalt wurden, sind weitere Farbschichtproben [Proben H18-S, H14-Q, H20-Q, H21-S, H22-S, H23-S vgl. S. 52, Abb. 3, Schema der Farbproben] in diesen Bereichen genommen und mit den Befunden des Hintergrundbildes verglichen worden. Auch hier gibt es zwischen der originalen Farbe und der Übermalungsschicht alte Bindemittelschichten. Diese Erkenntnisse zu der Schichtenfolge des Hintergrundbildes wurden zudem erweitert durch die Ergebnisse einer ganzflächigen Röntgenfluoreszenzuntersuchung (MA-XRF) des Bildes, auf die im Beitrag zur Maltechnik genauer eingegangen wird (vgl. S. 59–73).18 Eine Reihe weiterer Beobachtungen kamen zu dem getesteten unterschiedlichen Löslichkeitsverhalten der Schichten und zu den Resultaten der punktuellen Farbschichtuntersuchungen hinzu: Es ist auffällig, dass der Farbton der Übermalungsfläche, beginnend an der unteren Kante, von einem warmen Grau zu einem dunkleren Braungrau nach oben hin wechselt. Diese Farbabstufung gegenüber der weißen Wand tritt besonders rechts vom Rücken des Mädchens in Erscheinung. Der Farbunterschied, der durch die Firnisabnahme sehr verstärkt worden ist, kann nicht das Resultat einer altersbedingten Farbveränderung des Originals sein. Vielmehr ist er auf die Farbmischung der Übermalungsfarbe zurückzuführen, die sich wohl auf einen Braungelbton eines gealterten Firnisses über der Malerei Vermeers bezog. In den Farbunterschieden drückt sich ein zeitlicher Abstand von wenigstens mehreren Jahrzehnten zwischen der Ausführung des Bildes gegen 1658 und dem Aufbringen der Übermalungsschicht aus. In diesem Zeitraum war zunächst der erste Firnis auf dem vollendeten Gemälde getrocknet und hatte durch Alterung eine deutliche Vergilbung erfahren. Auf dieser Schicht setzte sich eine dünne Schmutzschicht ab. Später erfolgte ein zweiter Firnisauftrag. Auf diesen wurde im Wandbereich hinter dem Mädchen die Übermalungsschicht aufgebracht. Sie deckte das Cupido-Bild im Hintergrund für Jahrhunderte ab (Abb. 14–16). Vorweggenommen seien hier noch zwei Beobachtungen, die aber erst während der Abnahme der Übermalungsschicht möglich wurden: An mehreren Stellen ist zu sehen, dass die originale Farbschicht bereits gealtert und entsprechend krakeliert war, bevor die Übermalungsfarbe appliziert wurde. Diese drang an etlichen Stellen in die vorhandenen Risse und Spalten ein und füllte sie im oberen Teil aus. Die Übermalungsfarbe wiederum bildete ein mehr Abb. 13 Detail mit Kratzer an der Schulter des Cupidos

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39 Einleitung In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Johannes Vermeer ein gefragter, aus scheinbarer Bedeutungslosigkeit zurückgekehrter Künstler, und seine Werke sind seither Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Untersuchungen. Es wurden Werkkataloge erarbeitet und die vielen undatierten Werke in begründete, aber strittige Chronologien eingeordnet.1 Diese beruhten oft auf Eindrücken seiner stilistischen Entwicklung oder offensichtlichen technischen Verbesserungen im Laufe der Zeit. Einige der von früheren Gelehrten vorgeschlagenen Chronologien stützten sich auf die Vorstellung, dass eine künstlerische Entwicklung in einer linearen Progression verläuft. Die Realität ist aber oft viel nuancierter, da Künstler auf frühere Techniken zurückgreifen können, um ihre visuelle Wirkung unter neuen Umständen zu überdenken. So könnte etwa ein Sammler oder Kunstliebhaber hinsichtlich eines in der Werkstatt des Künstlers entstehenden Gemäldes eine Vorliebe für ein bestimmtes künstlerisches Motiv oder einen symbolischen Gehalt äußern, und der Künstler kann diese entsprechend berücksichtigen. Jüngste Untersuchungen der Leinwände von Vermeers Gemälden zeigen, dass einige Werke, deren Entstehung in einem Abstand von sieben bis acht Jahren angenommen wird, auf Leinwandstücke aus demselben Stoffballen gemalt wurden.2 Diese und andere Beobachtungen, wie etwa die teilweise Übermalung von Vermeers Bildern in späteren Jahrhunderten, scheinen den Wunsch geweckt zu haben, einen frischen Blick darauf zu werfen, wie der Delfter Künstler des 17. Jahrhunderts seine bezaubernden und großartigen Kunstwerke schuf. Was unsere heutige Einschätzung eines Gemäldes täuschen mag, sind Veränderungen, die im Laufe der Zeit stattgefunden haben, lange nachdem das Werk das Atelier verlassen hat. Veränderungen könnten etwa durch die unterschiedlichen Alterungseigenschaften der vom Künstler verwendeten Materialien bedingt sein, die oft von der Qualität der Pigmente oder Bindemittel abhängen, aber auch von den früheren Umgebungsbedingungen in den Privathäusern, in denen die Gemälde einst hingen. Derlei Probleme führen möglicherweise dazu, dass ein Gemälde im Vergleich zu einem anderen aus derselben Zeit und von demselben Künstler heute ein deutlich anderes Aussehen hat. So ergab etwa die anspruchsvolle wissenschaftliche Untersuchung des Mädchens mit dem Perlenohrring (Den Haag, Mauritshuis), dass das Mädchen einst Wimpern hatte und dass der heute fast monochrome Hintergrund früher ein dunkler Vorhang mit Falten war.3 Ähnliches stellte sich bei einer jüngst erfolgten Untersuchung von Vermeers Dame und Dienstmagd (New York, The Frick Collection) heraus. Der hinter den Figuren erscheinende geschwungene Vorhang mit blassbraunen Falten, der ursprünglich Lost in Transformation Die überarbeiteten Gemälde von Johannes Vermeer Jørgen Wadum Abb. 1 Johannes Vermeer Dame und Dienstmagd, um 1666–1668, Öl auf Leinwand, 90,2 × 78,7 cm, New York, The Frick Collection, Henry Clay Frick Bequest, Inv.-Nr. 1919.1.126 Abb. 2 Johannes Vermeer, Dame und Dienstmagd, Infrarotreflektografie, © Abteilung Gemälderestaurierung, The Metropolitan Museum of Art, New York

40 eine durchscheinend dunkelgrüne Farbe hatte, ist von Vermeer über einen großformatigen Wandteppich im flämischen Stil mit mehreren Figuren gemalt worden (Abb. 1, 2).4 Der Effekt könnte ursprünglich wie in Vermeers Mädchen mit rotem Hut (Washington D. C., National Gallery of Art) gewesen sein, bei dem sich im Hintergrund die abstrakten Muster eines Wandteppichs abzeichnen (Abb. 3).5 Pentimenti und spätere Anpassungen Bei der Untersuchung von Veränderungen im Erscheinungsbild eines Gemäldes ist zu bedenken, dass der Künstler selbst während seines Schaffensprozesses kompositorische Änderungen vorgenommen haben kann, wie im Fall des oben erwähnten Gemäldes Dame und Dienstmagd. Hier änderte der Künstler nicht nur seine Meinung zum Hintergrund und entschied sich schließlich gegen den Wandteppich und stattdessen für einen Vorhang, der in kontrastreichen Licht-undSchatten-Tönen gemalt war, so dass er viel auffälAbb. 3 Johannes Vermeer, Mädchen mit rotem Hut, um 1665/66, Öl auf Holz, 22,8 × 18 cm, Washington D. C., National Gallery of Art, Andrew W. Mellon Collection, Inv.-Nr. 1937.1.53 Abb. 4 Johannes Vermeer, Schlafendes Mädchen, um 1656/57, Öl auf Leinwand, 87,6 × 76,5 cm, New York, The Metropolitan Museum of Art, Schenkung Benjamin Altmann 1913, Inv.-Nr. 14.40.611 Abb. 5 Johannes Vermeer, Schlafendes Mädchen, Röntgenbild

41 New York, das einst für ein Werk von Gabriel Metsu (1629–1667) gehalten wurde, nahm Vermeer ebenfalls Änderungen vor.9 Er positionierte die Karte der Siebzehn Provinzen der Niederlande an der Rückwand zunächst weiter links, hinter dem Kopf der Frau, und platzierte im Vordergrund einen zweiten spanischen Stuhl mit Löwenköpfen (Abb. 8, 9).10 Später verschob er die Karte nach rechts und übermalte den Stuhl, um einen geräumigeren Innenraum für die häusliche Tätigkeit der Frau zu schaffen. Auf dem Berliner Gemälde Junge Dame mit Perlenhalsband (Abb. 10, 11) und der Briefleserin in Blau (Amsterdam, Rijksmuseum, Abb. 12) versah Vermeer die Rückwand mit einer vollständig gemalten Landkarte. Doch bei der Jungen Dame mit Perlenhalsband übermalte er die Landkarte wieder, um durch eine kahle, helle Wand mehr Ruhe ins Bild zu bringen. Möglicherweise wollte er damit eine zu deutliche Anlehnung an das etwas früher entstandene Gemälde liger war, als er heute erscheint. Auch das nun blaue Tischtuch war zunächst grün, wenn auch heller und farbintensiver.6 Dank früher Röntgenaufnahmen konnten viele Veränderungen in Vermeers Gesamtwerk dokumentiert werden. So befanden sich beispielsweise im Hintergrund des Schlafenden Mädchens (New York, The Metropolitan Museum of Art) in dem angrenzenden Raum ein Mann mit Hut und ein Hund, die Vermeer jedoch übermalte. Stattdessen fügte er rechts im Vordergrund einen Stuhl hinzu (Abb. 4, 5).7 Auch in die majestätische Ansicht von Delft (Den Haag, Mauritshuis) hatte der Künstler zunächst eine große männliche Figur mit breitkrempigem Hut im Vordergrund rechts eingefügt, die von einem neugierigen früheren Restaurator beinahe archäologisch ausgegraben wurde, nur um sie dann später – ganz im Sinne Vermeers – wieder zu überdecken (Abb. 6, 7).8 Bei dem Gemälde Junge Frau mit Wasserkanne im Metropolitan Museum of Art in Abb. 6 Johannes Vermeer, Ansicht von Delft, Detail übermalter Mann Abb. 7 Johannes Vermeer, Ansicht von Delft, um 1660–1663, Öl auf Leinwand, 98,5 × 117,5 cm, Den Haag, Mauritshuis, Inv.-Nr. 92

51 Einleitung Die Restaurierung von Johannes Vermeers Brieflesendem Mädchen am offenen Fenster ermöglichte besondere Einblicke in die Struktur des Gemäldes. Ergänzt werden diese Erkenntnisse durch naturwissenschaftliche Untersuchungen, die Aussagen zu den vom Künstler verwendeten Farben, zu den Bindemitteln und vor allem zur Verteilung der Farben im Gemälde erbringen. Diese Ergebnisse können mit den umfangreichen Untersuchungen, die von anderen Bildern Vermeers vorliegen, verglichen werden.1 Die Freilegung des Hintergrundbildes und die Entfernung der Übermalungen an den Bildrändern des Brieflesenden Mädchens revidieren teilweise die älteren Darstellungen zum Entstehungsprozess des Bildes.2 Deshalb sollen an dieser Stelle erneut Maltechnik und Bildgenese des Gemäldes in ihrer Komplexität beschrieben werden. Es ist zu betonen, dass die kunsttechnologische Untersuchung, ausgehend von der mikroskopischen Betrachtung der Oberfläche, nichtinvasiven Messungen und eingehenden Struktur- und Materialanalysen von entnommenen Proben, vor allem zur Bestimmung der Struktur und des Zustands des Gemäldes vor der Restaurierung diente. Nachdem bereits Hermann Kühn 1965 den Bestand an Pigmenten weitgehend bestimmt hatte,3 wurden zusätzliche Daten aus der Analyse der damals entnommenen Querschliffe und aus der nichtinvasiven Makroskopischen Röntgenfluoreszenzanalyse (MARFA, engl. MA-XRF) der gesamten Bildfläche gewonnen.4 Lediglich für die Bestimmung des Malbindemittels und gewisser Pigmente wurde in einer späteren Phase des Projekts eine begrenzte Anzahl neuer Proben entnommen und analysiert. Die Abbildungen 2 und 3 zeigen alle Probeentnahmepunkte dieser Untersuchungen (Abb. 2, 3). Der Bildträger Das Leinwandgewebe hat die Maße von 83×64,5 Zentimeter. Die Maße der eigentlichen Darstellung betragen hingegen 77,5 × 60 Zentimeter. Es handelt sich damit um ein von Vermeer selten verwendetes gestrecktes Hochformat des Maßverhältnisses von Höhe zu Breite von 1,29:1,5 das mit ähnlichen Maßverhältnissen erst um 1666 beim Mädchen mit rotem Hut (Washington D. C., National Gallery of Art)6 und um 1669/70 bei der Spitzenklöpplerin (Paris, Musée du Louvre) wiederkehrt. Die Gegenüberstellung der Leinwandmaße mit den in Holland üblichen Maßeinheiten, die jedoch in jeder Stadt gesondert festgelegt wurden, zeigt nur annähernd eine Übereinstimmung der Breite mit einer Delfter Elle von 68,3 Zentimetern. Die Höhe des Bildes entspricht hingegen bei Anrechnung eines schmalen Spannrandes annähernd drei Amsterdamer Fuß, das heißt 84,9 Zentimetern.7 Vergleichbar mit anderen Bildleinwänden des Künstlers,8 zählt das Gemälde zwischen 13 (Durchschnitt 12,64) und 15 (Durchschnitt 14,62) Fäden pro Quadratzentimeter in beiden Webrichtungen.9 Die Schwankungen der Fadenzahlen sind, entsprechend dem manuellen Herstellungsprozess, durch die Differenzen der Fadenstärke bedingt, die zwischen 0,2 und einem Millimeter betragen. Die in Z-Richtung verdrehten Fäden wurden in einfacher Leinenbindung verschränkt, wobei durch die schwankenden Fadenstärken Bereiche mit dichter Gewebestruktur neben kleineren Partien mit etwas lockerem, von kleinen Zwischenräumen gekennzeichnetem Gefüge vorkommen. Eine Besonderheit der Bildleinwand des Brieflesenden Mädchens ist die starke Verzerrung des Textils. Diese in beiden Richtungen bis zu einem Zentimeter aus der Fadengerade driftenden Gewebedehnungen rühren wohl von der ersten Aufspannung zur Präparierung der Leinwand her und wurChristoph Schölzel Christoph Herm Annegret Fuhrmann Zur Maltechnik des Gemäldes Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster von Johannes Vermeer Abb. 1 Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, Detail Chinesischer Teller

52 Abb. 2 Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, Schema der Farbproben, die Hermann Kühn 1965 entnommen hat Abb. 3 Schema der Farbproben, die Christoph Herm und Annegret Fuhrmann 2017 bis 2022 entnommen haben Tabelle 1 Zusammenfassung der Analyse-Ergebnisse von Hermann Kühn, 1965 Probe/Nr. Beschreibung Ergebnis Dr 1 Braun mit Grundierung vom unteren Bildrand rotbrauner, manganreicher Ocker mit Titanverunreinigungen, pflanzliches Schwarz, wenig Bleistannat und Bleiweiß Dr 1 a Weiß – Grundierung aus Probe 1 Kreide, Bleiweiß (Eiweißbindemittel) Dr 2-S grünliches Weiß vom unteren Ende des Vorhangs Bleiweiß (kupfer- und silberhaltig), Grüne Erde, wenig Bleistannat Dr 3 rötliches Weiß mit Grundierung aus der oberen Fensterlaibung Bleiweiß (kupfer- und silberhaltig), rotbrauner, manganreicher Ocker (titanhaltig) Dr 4 grünlich-braunes Weiß mit Grundierung aus der oberen Fensterlaibung (oberer Rand) Bleiweiß (kupfer- und silberhaltig), rotbrauner, manganreicher Ocker (titanhaltig), wenig Bleiantimonat (Neapelgelb) Dr 5-S Weiß aus der unteren Fensterlaibung Bleiweiß (kupfer- und silberhaltig) Dr 6-S Blau aus dem Tischtuch natürliches Ultramarin (heterogenes Korn), wenig Bleiweiß Dr 7-S Rot aus dem Tischtuch Zinnober, wenig Bleiweiß Dr 8 Gelb aus dem Ärmel Bleistannat Dr9 Grün aus dem oberen Ende des Vorhanges Azurit, Bleistannat Q – Querschliff S – Schabprobe M – Materialprobe

53 den mit der Grundierung gleichsam fixiert. Die bei diesem kräftigen Aufspannen entstandenen sogenannten Spanngirlanden weisen große Abstände der Spannpunkte von zwölf bis 16 Zentimetern auf.10 So sind fünf Spannpunkte an den horizontalen Rändern und sieben Spannpunkte an den vertikalen Leinwandrändern erkennbar. Die Zugpunkte in den Ecken liegen auffällig dicht an den abgeschnittenen Leinwandaußenkanten. Addiert man zu diesen äußeren Zugpunkten die Abstände der Zugpunkte untereinander hinzu, so kommt man theoretisch auf ein Leinwandformat, das an jeder Seite ungefähr sechs Zentimeter größer gewesen sein könnte und eventuell dem einst zum Grundieren aufgespannten Leinwandformat entspricht. Die starke vertikale Gewebeverzerrung, die sich bis zu 15 Zentimeter in Richtung der Bildmitte fortsetzt, spricht möglicherweise dafür, dass diese Leinwand nicht von einem sogenannten »witter«,11 einem professionellen Leinwandpräparierer, wie er in Holland im 17. Jahrhundert nachweisbar ist,12 vorbereitet wurde. Die weiten Spanngirlanden belegen zudem ein für das Grundieren separat aufgespanntes Gewebe, das nicht aus einem größeren Stück herausgeschnitten wurde. Ob das Gewebe, wie bei der noch erhaltenen originalen Aufspannung der Gitarrenspielerin (um 1670–1672, London, Kenwood House), mit Holznägeln auf einem schmalen Holzrahmen befestigt war oder ob die großen Abstände der Zugpunkte eher von der sogenannten holländischen Spannmethode herrühren, bei der die Leinwände mit Hilfe von wechselweise gespannten Stricken auf etwas größere Rahmen gespannt wurden,13 ist nicht zu klären. Das heutige Bildformat wurde exakt aus der Leinwand ausgeschnitten, sodass keine Spannränder verblieben. An allen vier Seiten sind die Grundierungsränder mit abgeschnitten worden. Angesichts eines während der Abnahme späterer Übermalungsschichten ganz dicht an der unteren Bildkante aufgetauchten Fußes eines Römerglases stellt sich die Frage, ob das ursprüngliche Bildformat etwas größer gewesen war. Dafür ergeben sich aus der Leinwandstrukturanalyse keine Hinweise. Ein Vergleich der Tiefen der Spanngirlanden an der oberen und an der unteren Seite der Leinwand erbringt eher Übereinstimmungen in den Maßen als deutlich kürzere Spanngirlanden an der unteren Seite, was ein Indiz für eine Kürzung des Bildes an dieser Stelle gewesen wäre (Abb. 4 a+b, vgl. Röntgenaufnahme im Atlas). Die Grundierung Vermeer wählte für das Brieflesende Mädchen wie auch für das etwa zeitgleich entstandene Schlafende Mädchen (um 1656/57, New York, The Metropolitan Museum of Art),14 wohl nach einer Vorleimung der Leinwand,15 ein für seine Zeit typisches Hellgrau oder Beige für die Grundierung, die neben dem Füllen der Leinwandporen vor allem als Reflexionsfläche für die Farben fungierte. Nach einigen Erfahrungen mit farbigen Grundierungen in seinem Frühwerk – einem hellen Gelbbraun im Bild Diana und ihre Gefährtinnen (1653/54, Den Haag, Mauritshuis),16 einer zweischichtigen Grundierung mit rötlicher oberer Schicht in Christus im Haus von Maria und Martha (1656/57, Edinburgh, National Gallery of Scotland)17 und einer hellen, weißlichen bis grauen Grundierung im Gemälde Bei der Kupplerin (1656, Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister)18 – arbeitete Vermeer ungefähr seit 1657 mit hellgrauen Grundierungen (Abb. 5). Abb. 4 a Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, Leinwandstrukturanalyse von Rick Johnson und William Sethares 2017, Bild der horizontalen Gewebeverzerrung Abb. 4 b Leinwandstrukturanalyse, Bild der vertikalen Gewebeverzerrung Abb. 5 Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, Detail rechte obere Ecke mit Grundierung

Abb. 6 a – d Mikroskopische Aufnahmen, Querschliff Probe H10-Q vom unteren Rand, links. a) Auflicht Schichtenfolge von unten nach oben: weiße Grundierung – schwarze Untermalung – rote Farbschicht, Oberseite heller mit Blaupigment – Bindemittel – dunkelbraune Übermalung b) Elektronenmikroskop (Rückstreuelektronenbild), Ausschnitt nicht identisch mit Abb. 6 a c) Elementverteilung (REM-EDX), Grundierung: Ca (Kreide) + Pb (Bleiweiß, Aggregate) d) rote Farbschicht: Hg + S (Zinnober), Oberseite Pb (Bleiweiß/Mennige)

55 Nach Abnahme der Übermalung wird jetzt am oberen Randstreifen des Brieflesenden Mädchens die Grundierung gut sichtbar. In der glatten, die Leinwandstruktur jedoch nicht völlig egalisierenden und wohl einschichtigen Grundierung von 0,15 Millimetern Schichtstärke hatte Kühn 1968 schon Kreide und einen Anteil von Bleiweiß nachgewiesen.19 Wie neun Analysen mittels Rasterelektronenmikroskopie mit energiedispersiver Röntgenspektroskopie (REM-EDX) ergaben [Proben Dr1, Dr3, Dr4, H7-Q, H8-Q, H9-Q, H10-Q, H14-Q, H20-Q], weist die Elementzusammensetzung der Grundierung Blei und Calcium auf, die mit Hilfe eines Fourier-TransformInfrarotspektrometers (FTIR) als eine Mischung von Bleiweiß mit Calciumcarbonat (Kreide) identifiziert wurden [Proben H7-Q, H22-S] (Abb. 7). Unter dem Polarisationsmikroskop (PLM) zeigt die Grundierung [Probe H22-S] eine einheitliche Teilchengröße bis zu etwa 5 Mikrometer sowohl für die Kreide (Mikrofossilien wurden nicht gefunden) als auch für das Bleiweiß. Das Bleiweiß findet sich überwiegend in Klumpen von bis zu etwa 20 Mikrometer Durchmesser vor (vgl. Abb. 6 c). Eine Mischung von Bleiweiß und Kreide im Verhältnis 1 : 1 wird schon 1620 von Theodore Turquet de Mayerne als »ceruse« oder »cerusa« erwähnt.20 Auch eine Mischung im Verhältnis 2: 1 ist in dieser Quelle beschrieben.21 Der beobachtete hellgraue oder beige Farbton der Grundierung wurde durch eine Beimengung von Erdpigment erzielt, was durch geringe Mengen an Aluminium und Silicium (aus Tonmineralen) sowie Eisen und Spuren von Titan angezeigt wird. Diese Elemente konnten anhand von Querschliffen mittels REM-EDX nachgewiesen werden [Proben H10-Q, H14-Q, H20-Q]. Eisenoxidhydroxid sowie nadelige Tonminerale, die unter dem Polarisationsmikroskop beobachtet wurden [Probe H22-S], bestätigen diese Schlussfolgerung. Geringste Spuren von Mangan [Proben H14-Q, H20-Q], die durch REM-EDX nachgewiesen wurden, deuten auf wenig Umbra hin, die anhand sehr weniger Teilchen von Pyrolusit (Mangandioxid) unter dem Polarisationsmikroskop bestätigt wird [Probe H22-S] (Abb. 7). Unterzeichnung Die ersten Schritte der Bildentstehung, die im Sinne der »inventio« wichtige künstlerische Entscheidungen zur kompositionellen Anordnung der Bildelemente und wohl auch zur Verteilung der Hell-Dunkel-Werte beinhalten, können an Vermeers Bildern nur in begrenztem Maße nachvollzogen werden. Dabei wird gern das angefangene Bild auf der Staffelei des Künstlers in Vermeers Gemälde Die Malkunst (um 1666–1668, Wien, Kunsthistorisches Museum) herangezogen, das einige weiße Unterzeichnungslinien zeigt. Die daraus abgeleitete Aussage, Vermeer habe seine Bilder tatsächlich mit weißer Kreide angelegt, ist zumindest bezüglich des Brieflesenden Mädchens wenig wahrscheinlich, da sich die weißen Unterzeichnungslinien wohl nicht genügend von der hellgrauen Grundierung abgehoben hätten. Auf Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring (um 1665–1667, Den Haag, Mauritshuis) wurden mittels multispektraler Infrarotreflektografie (MS-IRR) schwarze Umrisse, ausgeführt mit einem feinen Pinsel in kurzen Strichen, entdeckt.22 Derlei Striche sind auf dem Brieflesenden Mädchen nicht zu finden. Zu den ersten kompositionellen Entscheidungen, auch wenn sie auf dem Gemälde nicht in Form von Hilfslinien oder Ahnlichem nachgewiesen werden konnten, mag die perspektivische Anordnung der Gegenstände und besonders des Fenstergewändes gehört haben. Es war notwendig, den zentralen Fluchtpunkt, der die horizontale Achse zwischen dem Auge des Künstlers und der als bildparallel angenommenen Rückwand bezeichnet, festzulegen.23 Im Unterschied zu vielen Kompositionen, bei denen sich der Maler eingesteckter Nadeln bediente, an denen angefärbte Fäden für den sogenannten »Schnurschlag« befestigt waren und mit denen die Zentralperspektiven exakt konstruiert wurden,24 treffen sich die Verlängerungen der Tiefenlinien im Brieflesenden Mädchen nicht genau in einem Punkt. Sie bilden vielmehr eine Punktansammlung, die die Horizontlinie in der Nähe des linken Vorhangrandes etwa im Verhältnis 2: 1 teilt.25 Abb. 7 Mikroskopische Aufnahme (PLM, 1 Polarisator), Probe H22-S vom oberen Bildrand, Grundierung: Bleiweiß, Calcit (keine Coccolithen nachweisbar) Eisenoxidhydroxid, Silicat (Nadeln), sehr wenig Pyrolusit (Bildmitte)

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