18 an der Wand ist in der kurzen Bildbeschreibung keine Rede – ein Hinweis darauf, dass die großflächige Übermalung im Hintergrund der Briefleserin vermutlich bereits vor der Ankunft des Werkes in der Gemäldesammlung Augusts III. ausgeführt worden sein muss.12 Seiner hohen Wertschätzung entsprechend fand das Bild zunächst Aufnahme im privaten Bilderkabinett des Kurfürsten von Sachsen im Dresdner Residenzschloss.13 Nach dessen Auflösung überführte man es 1816 in die königliche Gemäldegalerie im Stallgebäude am Jüdenhof.14 Vermeers Briefleserin zählt damit zu den ganz wenigen bereits im frühen 19. Jahrhundert öffentlich zugänglichen Werken des lange Zeit vergessenen Malers. Seit der Eröffnung der von Gottfried Semper im Jahr 1855 neuerrichteten Gemäldegalerie war das Gemälde Teil der Dauerausstellung15 und verblieb dort bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Während der Kriegsjahre lagerte die Briefleserin unversehrt zunächst in der Albrechtsburg in Meißen, später in einem Sicherheitsdepot auf der Festung Königstein in der Sächsischen Schweiz. Von dort wurde das Bild gemeinsam mit nahezu allen Kunstwerken der damaligen Staatlichen Sammlungen für Kunst und Wissenschaft Dresden als Kriegstrophäe in die UdSSR transportiert und kehrte 1955 in die DDR zurück. Seit Juni 1956 gehört das Brieflesende Mädchen am offenen Fenster zum Kernbestand der permanent ausgestellten Werke der wiedereröffneten Gemäldegalerie Alte Meister im Semperbau am Dresdner Zwinger. III Durch die von 2017 bis 2021 erfolgte Restaurierung haben sich nicht nur die Komposition und die Licht- und Farbstimmung des Brieflesenden Mädchens, sondern auch seine Ausstrahlung und künstlerische Aussage grundlegend gewandelt. Das frühe Hauptwerk Vermeers zeigt sich nun in seinem hervorragenden Erhaltungszustand in einer Gestalt, in der es der Intention seines Schöpfers sehr nahekommt. Vermeer schilderte eine junge Leserin vor einem geöffneten Fenster in der Ecke eines reich ausgestatteten Raumes. Ein illusionistisch gemalter grüner Vorhang verbirgt den Bildausschnitt rechts zu beinahe einem Drittel. Ein breiter, mit einem orientalischen Teppich und einer obstgefüllten chinesischen Porzellanschale dekorierter Tisch steht quer im Raum, sodass die vordere Tischkante über dem unteren Bildrand erscheint. Als optische Barriere erschwert er gleichsam den Zugang zum intimen Raum des Mädchens. An der Wand hängt ein großformatiges Bild in einem breiten schwarzen Rahmen. Es zeigt einen aufrecht stehenden, geflügelten Knaben, der sich auf seinen Bogen stützt und seinen linken Arm erhoben hat. Das dekorative Cupido- Gemälde nimmt den größten Teil der im Bildausschnitt wiedergegebenen hinteren Wandfläche ein. Ausgehend von der Horizontlinie ist jede der Bildhälften von einer der beiden Figuren dominiert. Das Bild des nackten, drallen Liebesgottes erreicht beinahe die Größe der hinter dem Tisch sichtbaren Dreiviertelfigur der Leserin. Die junge Frau im Profil hat sich der Fensteröffnung zugewandt, um den Brief, den sie mit beiden Händen hält, bei gutem Licht lesen zu können. Ihre silhouettenhafte Erscheinung hebt sich von der hell gekalkten Wand ab, während die Kontur ihres leicht geneigten Kopfes durch den dunkelbraunen Bodenbereich in der linken unteren Ecke des Amor-Bildes betont wird (Abb. 8). Ihr gepflegtes zweiteiliges Kleid in auffälligem Schwarz-Gelb mit weißem Brusttuch, ihr Kopf mit der sanft geschwungenen Stirn- und Nackenlinie und dem ebenmäßig schönen Gesicht mit gesenktem Blick sowie die raffinierte, von zwei schmalen Bändern gehaltene Steckfrisur mit langen Schläfenlocken – all dies macht sie zu einer anmutigen Gestalt von erlesener Eleganz. Im Vergleich zu dem Zustand vor der Restaurierung hat die Komposition eine erhebliche Verdichtung erfahren. Diese bewirkt, dass die zarte Gestalt der Briefleserin zwischen dem blauen Rahmen des bleiverglasten, nach innen geöffneten Fensters, dem dunklen Schmuckrahmen des Cupido-Bildes, dem spanischen Stuhl in der Ecke und dem breiten Tisch im Vordergrund wie am Ort fixiert erscheint. In der beinahe drängenden Fülle in der Zimmerecke wird sie gleichzeitig gehalten und in ihren Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt. Während ihre Position direkt gegenüber der Fensteröffnung im Raum genau definiert ist, blieb Vermeer bei der Schilderung der linken hinteren Raumecke vage. Sie wird von der Scheibe, dem darüberhängenden roten Fenstervorhang und einem schräg gestellten spanischen Stuhl verdeckt. Erst nach der Restaurierung wird nun deutlich, wie der blaue Fensterrahmen den breiten schwarzen Rahmen an der Rückwand knapp überschneidet. Der Umgang mit ungewohnten Überschneidungen, großen Formen und betonten Kanten gehört seit Vermeers Schlafendem Mädchen (um 1656/57, New York, The Metropolitan Museum of Art, Abb. 7) zu den wiederkehrenden Stilmitteln in seinen Interieurbildern.16 Ein starkes Element der
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