Leseprobe

39 Einleitung In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Johannes Vermeer ein gefragter, aus scheinbarer Bedeutungslosigkeit zurückgekehrter Künstler, und seine Werke sind seither Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Untersuchungen. Es wurden Werkkataloge erarbeitet und die vielen undatierten Werke in begründete, aber strittige Chronologien eingeordnet.1 Diese beruhten oft auf Eindrücken seiner stilistischen Entwicklung oder offensichtlichen technischen Verbesserungen im Laufe der Zeit. Einige der von früheren Gelehrten vorgeschlagenen Chronologien stützten sich auf die Vorstellung, dass eine künstlerische Entwicklung in einer linearen Progression verläuft. Die Realität ist aber oft viel nuancierter, da Künstler auf frühere Techniken zurückgreifen können, um ihre visuelle Wirkung unter neuen Umständen zu überdenken. So könnte etwa ein Sammler oder Kunstliebhaber hinsichtlich eines in der Werkstatt des Künstlers entstehenden Gemäldes eine Vorliebe für ein bestimmtes künstlerisches Motiv oder einen symbolischen Gehalt äußern, und der Künstler kann diese entsprechend berücksichtigen. Jüngste Untersuchungen der Leinwände von Vermeers Gemälden zeigen, dass einige Werke, deren Entstehung in einem Abstand von sieben bis acht Jahren angenommen wird, auf Leinwandstücke aus demselben Stoffballen gemalt wurden.2 Diese und andere Beobachtungen, wie etwa die teilweise Übermalung von Vermeers Bildern in späteren Jahrhunderten, scheinen den Wunsch geweckt zu haben, einen frischen Blick darauf zu werfen, wie der Delfter Künstler des 17. Jahrhunderts seine bezaubernden und großartigen Kunstwerke schuf. Was unsere heutige Einschätzung eines Gemäldes täuschen mag, sind Veränderungen, die im Laufe der Zeit stattgefunden haben, lange nachdem das Werk das Atelier verlassen hat. Veränderungen könnten etwa durch die unterschiedlichen Alterungseigenschaften der vom Künstler verwendeten Materialien bedingt sein, die oft von der Qualität der Pigmente oder Bindemittel abhängen, aber auch von den früheren Umgebungsbedingungen in den Privathäusern, in denen die Gemälde einst hingen. Derlei Probleme führen möglicherweise dazu, dass ein Gemälde im Vergleich zu einem anderen aus derselben Zeit und von demselben Künstler heute ein deutlich anderes Aussehen hat. So ergab etwa die anspruchsvolle wissenschaftliche Untersuchung des Mädchens mit dem Perlenohrring (Den Haag, Mauritshuis), dass das Mädchen einst Wimpern hatte und dass der heute fast monochrome Hintergrund früher ein dunkler Vorhang mit Falten war.3 Ähnliches stellte sich bei einer jüngst erfolgten Untersuchung von Vermeers Dame und Dienstmagd (New York, The Frick Collection) heraus. Der hinter den Figuren erscheinende geschwungene Vorhang mit blassbraunen Falten, der ursprünglich Lost in Transformation Die überarbeiteten Gemälde von Johannes Vermeer Jørgen Wadum Abb. 1 Johannes Vermeer Dame und Dienstmagd, um 1666–1668, Öl auf Leinwand, 90,2 × 78,7 cm, New York, The Frick Collection, Henry Clay Frick Bequest, Inv.-Nr. 1919.1.126 Abb. 2 Johannes Vermeer, Dame und Dienstmagd, Infrarotreflektografie, © Abteilung Gemälderestaurierung, The Metropolitan Museum of Art, New York

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