51 Einleitung Die Restaurierung von Johannes Vermeers Brieflesendem Mädchen am offenen Fenster ermöglichte besondere Einblicke in die Struktur des Gemäldes. Ergänzt werden diese Erkenntnisse durch naturwissenschaftliche Untersuchungen, die Aussagen zu den vom Künstler verwendeten Farben, zu den Bindemitteln und vor allem zur Verteilung der Farben im Gemälde erbringen. Diese Ergebnisse können mit den umfangreichen Untersuchungen, die von anderen Bildern Vermeers vorliegen, verglichen werden.1 Die Freilegung des Hintergrundbildes und die Entfernung der Übermalungen an den Bildrändern des Brieflesenden Mädchens revidieren teilweise die älteren Darstellungen zum Entstehungsprozess des Bildes.2 Deshalb sollen an dieser Stelle erneut Maltechnik und Bildgenese des Gemäldes in ihrer Komplexität beschrieben werden. Es ist zu betonen, dass die kunsttechnologische Untersuchung, ausgehend von der mikroskopischen Betrachtung der Oberfläche, nichtinvasiven Messungen und eingehenden Struktur- und Materialanalysen von entnommenen Proben, vor allem zur Bestimmung der Struktur und des Zustands des Gemäldes vor der Restaurierung diente. Nachdem bereits Hermann Kühn 1965 den Bestand an Pigmenten weitgehend bestimmt hatte,3 wurden zusätzliche Daten aus der Analyse der damals entnommenen Querschliffe und aus der nichtinvasiven Makroskopischen Röntgenfluoreszenzanalyse (MARFA, engl. MA-XRF) der gesamten Bildfläche gewonnen.4 Lediglich für die Bestimmung des Malbindemittels und gewisser Pigmente wurde in einer späteren Phase des Projekts eine begrenzte Anzahl neuer Proben entnommen und analysiert. Die Abbildungen 2 und 3 zeigen alle Probeentnahmepunkte dieser Untersuchungen (Abb. 2, 3). Der Bildträger Das Leinwandgewebe hat die Maße von 83×64,5 Zentimeter. Die Maße der eigentlichen Darstellung betragen hingegen 77,5 × 60 Zentimeter. Es handelt sich damit um ein von Vermeer selten verwendetes gestrecktes Hochformat des Maßverhältnisses von Höhe zu Breite von 1,29:1,5 das mit ähnlichen Maßverhältnissen erst um 1666 beim Mädchen mit rotem Hut (Washington D. C., National Gallery of Art)6 und um 1669/70 bei der Spitzenklöpplerin (Paris, Musée du Louvre) wiederkehrt. Die Gegenüberstellung der Leinwandmaße mit den in Holland üblichen Maßeinheiten, die jedoch in jeder Stadt gesondert festgelegt wurden, zeigt nur annähernd eine Übereinstimmung der Breite mit einer Delfter Elle von 68,3 Zentimetern. Die Höhe des Bildes entspricht hingegen bei Anrechnung eines schmalen Spannrandes annähernd drei Amsterdamer Fuß, das heißt 84,9 Zentimetern.7 Vergleichbar mit anderen Bildleinwänden des Künstlers,8 zählt das Gemälde zwischen 13 (Durchschnitt 12,64) und 15 (Durchschnitt 14,62) Fäden pro Quadratzentimeter in beiden Webrichtungen.9 Die Schwankungen der Fadenzahlen sind, entsprechend dem manuellen Herstellungsprozess, durch die Differenzen der Fadenstärke bedingt, die zwischen 0,2 und einem Millimeter betragen. Die in Z-Richtung verdrehten Fäden wurden in einfacher Leinenbindung verschränkt, wobei durch die schwankenden Fadenstärken Bereiche mit dichter Gewebestruktur neben kleineren Partien mit etwas lockerem, von kleinen Zwischenräumen gekennzeichnetem Gefüge vorkommen. Eine Besonderheit der Bildleinwand des Brieflesenden Mädchens ist die starke Verzerrung des Textils. Diese in beiden Richtungen bis zu einem Zentimeter aus der Fadengerade driftenden Gewebedehnungen rühren wohl von der ersten Aufspannung zur Präparierung der Leinwand her und wurChristoph Schölzel Christoph Herm Annegret Fuhrmann Zur Maltechnik des Gemäldes Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster von Johannes Vermeer Abb. 1 Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, Detail Chinesischer Teller
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