Leseprobe

53 den mit der Grundierung gleichsam fixiert. Die bei diesem kräftigen Aufspannen entstandenen sogenannten Spanngirlanden weisen große Abstände der Spannpunkte von zwölf bis 16 Zentimetern auf.10 So sind fünf Spannpunkte an den horizontalen Rändern und sieben Spannpunkte an den vertikalen Leinwandrändern erkennbar. Die Zugpunkte in den Ecken liegen auffällig dicht an den abgeschnittenen Leinwandaußenkanten. Addiert man zu diesen äußeren Zugpunkten die Abstände der Zugpunkte untereinander hinzu, so kommt man theoretisch auf ein Leinwandformat, das an jeder Seite ungefähr sechs Zentimeter größer gewesen sein könnte und eventuell dem einst zum Grundieren aufgespannten Leinwandformat entspricht. Die starke vertikale Gewebeverzerrung, die sich bis zu 15 Zentimeter in Richtung der Bildmitte fortsetzt, spricht möglicherweise dafür, dass diese Leinwand nicht von einem sogenannten »witter«,11 einem professionellen Leinwandpräparierer, wie er in Holland im 17. Jahrhundert nachweisbar ist,12 vorbereitet wurde. Die weiten Spanngirlanden belegen zudem ein für das Grundieren separat aufgespanntes Gewebe, das nicht aus einem größeren Stück herausgeschnitten wurde. Ob das Gewebe, wie bei der noch erhaltenen originalen Aufspannung der Gitarrenspielerin (um 1670–1672, London, Kenwood House), mit Holznägeln auf einem schmalen Holzrahmen befestigt war oder ob die großen Abstände der Zugpunkte eher von der sogenannten holländischen Spannmethode herrühren, bei der die Leinwände mit Hilfe von wechselweise gespannten Stricken auf etwas größere Rahmen gespannt wurden,13 ist nicht zu klären. Das heutige Bildformat wurde exakt aus der Leinwand ausgeschnitten, sodass keine Spannränder verblieben. An allen vier Seiten sind die Grundierungsränder mit abgeschnitten worden. Angesichts eines während der Abnahme späterer Übermalungsschichten ganz dicht an der unteren Bildkante aufgetauchten Fußes eines Römerglases stellt sich die Frage, ob das ursprüngliche Bildformat etwas größer gewesen war. Dafür ergeben sich aus der Leinwandstrukturanalyse keine Hinweise. Ein Vergleich der Tiefen der Spanngirlanden an der oberen und an der unteren Seite der Leinwand erbringt eher Übereinstimmungen in den Maßen als deutlich kürzere Spanngirlanden an der unteren Seite, was ein Indiz für eine Kürzung des Bildes an dieser Stelle gewesen wäre (Abb. 4 a+b, vgl. Röntgenaufnahme im Atlas). Die Grundierung Vermeer wählte für das Brieflesende Mädchen wie auch für das etwa zeitgleich entstandene Schlafende Mädchen (um 1656/57, New York, The Metropolitan Museum of Art),14 wohl nach einer Vorleimung der Leinwand,15 ein für seine Zeit typisches Hellgrau oder Beige für die Grundierung, die neben dem Füllen der Leinwandporen vor allem als Reflexionsfläche für die Farben fungierte. Nach einigen Erfahrungen mit farbigen Grundierungen in seinem Frühwerk – einem hellen Gelbbraun im Bild Diana und ihre Gefährtinnen (1653/54, Den Haag, Mauritshuis),16 einer zweischichtigen Grundierung mit rötlicher oberer Schicht in Christus im Haus von Maria und Martha (1656/57, Edinburgh, National Gallery of Scotland)17 und einer hellen, weißlichen bis grauen Grundierung im Gemälde Bei der Kupplerin (1656, Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister)18 – arbeitete Vermeer ungefähr seit 1657 mit hellgrauen Grundierungen (Abb. 5). Abb. 4 a Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, Leinwandstrukturanalyse von Rick Johnson und William Sethares 2017, Bild der horizontalen Gewebeverzerrung Abb. 4 b Leinwandstrukturanalyse, Bild der vertikalen Gewebeverzerrung Abb. 5 Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, Detail rechte obere Ecke mit Grundierung

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