Leseprobe

55 Nach Abnahme der Übermalung wird jetzt am oberen Randstreifen des Brieflesenden Mädchens die Grundierung gut sichtbar. In der glatten, die Leinwandstruktur jedoch nicht völlig egalisierenden und wohl einschichtigen Grundierung von 0,15 Millimetern Schichtstärke hatte Kühn 1968 schon Kreide und einen Anteil von Bleiweiß nachgewiesen.19 Wie neun Analysen mittels Rasterelektronenmikroskopie mit energiedispersiver Röntgenspektroskopie (REM-EDX) ergaben [Proben Dr1, Dr3, Dr4, H7-Q, H8-Q, H9-Q, H10-Q, H14-Q, H20-Q], weist die Elementzusammensetzung der Grundierung Blei und Calcium auf, die mit Hilfe eines Fourier-TransformInfrarotspektrometers (FTIR) als eine Mischung von Bleiweiß mit Calciumcarbonat (Kreide) identifiziert wurden [Proben H7-Q, H22-S] (Abb. 7). Unter dem Polarisationsmikroskop (PLM) zeigt die Grundierung [Probe H22-S] eine einheitliche Teilchengröße bis zu etwa 5 Mikrometer sowohl für die Kreide (Mikrofossilien wurden nicht gefunden) als auch für das Bleiweiß. Das Bleiweiß findet sich überwiegend in Klumpen von bis zu etwa 20 Mikrometer Durchmesser vor (vgl. Abb. 6 c). Eine Mischung von Bleiweiß und Kreide im Verhältnis 1 : 1 wird schon 1620 von Theodore Turquet de Mayerne als »ceruse« oder »cerusa« erwähnt.20 Auch eine Mischung im Verhältnis 2: 1 ist in dieser Quelle beschrieben.21 Der beobachtete hellgraue oder beige Farbton der Grundierung wurde durch eine Beimengung von Erdpigment erzielt, was durch geringe Mengen an Aluminium und Silicium (aus Tonmineralen) sowie Eisen und Spuren von Titan angezeigt wird. Diese Elemente konnten anhand von Querschliffen mittels REM-EDX nachgewiesen werden [Proben H10-Q, H14-Q, H20-Q]. Eisenoxidhydroxid sowie nadelige Tonminerale, die unter dem Polarisationsmikroskop beobachtet wurden [Probe H22-S], bestätigen diese Schlussfolgerung. Geringste Spuren von Mangan [Proben H14-Q, H20-Q], die durch REM-EDX nachgewiesen wurden, deuten auf wenig Umbra hin, die anhand sehr weniger Teilchen von Pyrolusit (Mangandioxid) unter dem Polarisationsmikroskop bestätigt wird [Probe H22-S] (Abb. 7). Unterzeichnung Die ersten Schritte der Bildentstehung, die im Sinne der »inventio« wichtige künstlerische Entscheidungen zur kompositionellen Anordnung der Bildelemente und wohl auch zur Verteilung der Hell-Dunkel-Werte beinhalten, können an Vermeers Bildern nur in begrenztem Maße nachvollzogen werden. Dabei wird gern das angefangene Bild auf der Staffelei des Künstlers in Vermeers Gemälde Die Malkunst (um 1666–1668, Wien, Kunsthistorisches Museum) herangezogen, das einige weiße Unterzeichnungslinien zeigt. Die daraus abgeleitete Aussage, Vermeer habe seine Bilder tatsächlich mit weißer Kreide angelegt, ist zumindest bezüglich des Brieflesenden Mädchens wenig wahrscheinlich, da sich die weißen Unterzeichnungslinien wohl nicht genügend von der hellgrauen Grundierung abgehoben hätten. Auf Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring (um 1665–1667, Den Haag, Mauritshuis) wurden mittels multispektraler Infrarotreflektografie (MS-IRR) schwarze Umrisse, ausgeführt mit einem feinen Pinsel in kurzen Strichen, entdeckt.22 Derlei Striche sind auf dem Brieflesenden Mädchen nicht zu finden. Zu den ersten kompositionellen Entscheidungen, auch wenn sie auf dem Gemälde nicht in Form von Hilfslinien oder Ahnlichem nachgewiesen werden konnten, mag die perspektivische Anordnung der Gegenstände und besonders des Fenstergewändes gehört haben. Es war notwendig, den zentralen Fluchtpunkt, der die horizontale Achse zwischen dem Auge des Künstlers und der als bildparallel angenommenen Rückwand bezeichnet, festzulegen.23 Im Unterschied zu vielen Kompositionen, bei denen sich der Maler eingesteckter Nadeln bediente, an denen angefärbte Fäden für den sogenannten »Schnurschlag« befestigt waren und mit denen die Zentralperspektiven exakt konstruiert wurden,24 treffen sich die Verlängerungen der Tiefenlinien im Brieflesenden Mädchen nicht genau in einem Punkt. Sie bilden vielmehr eine Punktansammlung, die die Horizontlinie in der Nähe des linken Vorhangrandes etwa im Verhältnis 2: 1 teilt.25 Abb. 7 Mikroskopische Aufnahme (PLM, 1 Polarisator), Probe H22-S vom oberen Bildrand, Grundierung: Bleiweiß, Calcit (keine Coccolithen nachweisbar) Eisenoxidhydroxid, Silicat (Nadeln), sehr wenig Pyrolusit (Bildmitte)

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