Leseprobe

79 Einführung Im August 2017 wurde Vermeers Gemälde Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster (um 1657– 1659) mithilfe bildgebender makroskopischer Röntgenfluoreszenzanalyse (MA-RFA, engl. MA-XRF) untersucht, einer zu diesem Zeitpunkt relativ neuen diagnostischen Technik für die Untersuchung von Gemälden. Diese Untersuchungsmethode geht einen Schritt weiter als die herkömmliche Röntgenradiografie. Während Letztere nur ein Kontrastbild zwischen leichten und schweren Elementen zeigt, bildet die MA-XRF die Verteilung der einzelnen chemischen Elemente im gesamten Gemälde ab. Anhand der erstellten sogenannten Elementverteilungskarten lässt sich feststellen, welche Pigmente verwendet wurden und wo sie im Gemälde zum Einsatz kamen. Im Fall der Briefleserin führte dies zu genaueren Informationen über Vermeers Palette, den Malprozess und – was für die Behandlung des Gemäldes von großer Bedeutung war – über den Zustand des im Hintergrund unter Schichten späterer Übermalungen verborgenen Cupidos. Die MAXRF-Untersuchung fand in einer entscheidenden Phase der jüngsten restauratorischen Behandlung (2017–2021) statt, und die Untersuchungsergebnisse dienten als Entscheidungshilfe für die Entfernung der alten Übermalung und somit der Freilegung des Cupidos. Die MA-XRF visualisierte auch Veränderungen, die vom Künstler selbst während des Malprozesses angebracht wurden. Frühere Röntgen- und Infrarotreflektografie-Untersuchungen hatten bereits gezeigt, dass Vermeer während der Entwicklung der Komposition einige bemerkenswerte Veränderungen vornahm. Die MA-XRF-Untersuchung im Jahre 2017 ermöglichte nun erstmals, Vermeers komplexen kreativen Prozess in chronologische Reihenfolge zu bringen und dadurch Schritt für Schritt den Gedankengang des Künstlers nachzuvollziehen. Bildgebende Makroskopische Röntgenfluoreszenzanalyse (MA-RFA, engl. MA-XRF) Prinzipien der Untersuchungstechnik Die MA-XRF ist ein zerstörungsfreies analytisches Bildgebungsverfahren, das speziell für die Untersuchung von Gemälden entwickelt wurde. Die Anwendung der Technik begann im Jahr 2007, als man das Gemälde Rasenstück (1887) des Malers Vincent van Gogh im Hamburger Deutschen Elektronen-Synchroton (DESY), einem großen Teilchenbeschleuniger, untersuchte. Damals scannte ein Forschungsteam über einen Zeitraum von drei Tagen eine Fläche von 15 × 15 Zentimetern. Mithilfe der dabei erzeugten Elementverteilungskarten konnte ein unter den Oberflächenschichten des Rasenstücks verborgenes Porträt visualisiert werden.1 Das war zu diesem Zeitpunkt revolutionär und fand in den Medien große Beachtung. Es inspirierte die Entwicklung von mobilen MA-XRF-Scannern, die Messungen an einem ganzen Gemälde direkt vor Ort im Museum oder in der Restaurierungswerkstatt ermöglichen. Der Bruker M6 Jetstream ist der erste kommerziell erhältliche mobile MA-XRF-Scanner. Seit seiner Einführung im Jahr 2012 hielt er Einzug in Museumslabore auf der ganzen Welt.2 Außergewöhnliche Einblicke Was die bildgebende Makroskopische Röntgenfluoreszenzanalyse verrät über Material, Zustand und Entstehung von Vermeers Gemälde Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster Anna Krekeler Annelies van Loon Ige Verslype Abb. 1 Untersuchungsaufbau für die MA-XRFUntersuchung von Vermeers Brieflesendem Mädchen am offenen Fenster, August 2017

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