101 Die Ränder des Gemäldes Die im zweiten Arbeitsschritt der Restaurierung freigelegten Bildränder des Brieflesenden Mädchens am offenen Fenster verweisen auf einen funktionalen Zusammenhang des Dresdner Gemäldes, der sich von dem anderer Werke Vermeers unterscheidet. Da die oben beschriebenen Befunde an den ungefähr 2,5 Zentimeter breiten Rändern sehr heterogen sind,1 bleibt es spekulativ, ob eine der im Folgenden dargestellten Möglichkeiten diese Randsituationen zu erklären vermag. Die breiten Ränder mit ihren in unterschiedlichen Stadien abgebrochenen Bemalungen könnten in der Entstehungsgeschichte des Bildes ursprünglich vielleicht zur Komposition gehört haben. Es ist denkbar, dass hier im Wesentlichen Entwicklungsstufen der Untermalung sichtbar sind, die bei der weiteren Ausführung des Gemäldes nicht mehr beachtet wurden – vielleicht, weil sie zu diesem Zeitpunkt abgedeckt waren. Der bei der Abnahme der Übermalungsschichten in der rechten unteren Ecke zum Vorschein gekommene Fuß eines großen Römerglases wirft zudem noch die Frage auf,2 warum das Glas so dicht an der unteren Bildkante positioniert gewesen war. Der Fuß des Glases wäre sicherlich beim üblichen Einsetzen des Gemäldes in einen Schmuckrahmen an der unteren Kante vom Rahmenfalz abgedeckt worden. Anhand der Spanngirlanden der Leinwand ist aber davon auszugehen, dass das Bildträgerformat nicht erheblich beschnitten sein kann.3 So stellt sich die Frage, ob das Römerglas zu einer anderen, verworfenen Komposition gehört haben könnte. Christoph Schölzel Daniel Lordick Christoph Herm Johannes Vermeers Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster in einem Guckkasten – ein Experiment Hauptmotive Beim Versuch, den funktionellen Kontext des Gemäldes zu ermitteln, erscheint es naheliegend, zuerst von den Motiven des Bildes auszugehen: Das Hauptmotiv des Brieflesenden Mädchens unterscheidet sich nicht derart von anderen Genrebildern Vermeers, dass man vermuten könnte, es sei für einen von den vergleichbaren Bildern des Künstlers abweichenden Bildzusammenhang vorgesehen gewesen. Das Motiv des geöffneten Fensters auf der linken Seite kommt auch in vier anderen Interieurbildern Vermeers vor. Es ist kaum vorstellbar, dass sich das Fenster einstmals auf dem breiten linken Randstreifen fortsetzte. Der Tisch mit der Obstschale wie auch der mit Aussparungen bereits angelegt gewesene spanische Stuhl im Vordergrund erfüll(t)en die Funktion einer Bildbarriere.4 Solch eine Absetzung des Vordergrundes verwendete Vermeer fast zeitgleich, aber wesentlich bildfüllender – beispielsweise in der Kupplerin (1656, Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister) oder im Schlafenden Mädchen (um 1656–1657, New York, The Metropolitan Museum of Art) – zwei Gemälde, die aber keine mit dem Brieflesenden Mädchen vergleichbare Randsituation aufweisen. Ein weiteres Motiv ist der grüne Vorhang, der mit seinen Fransen und der Lochreihe am oberen Saum als ein Bildvorhang in realer Größe gemeint ist, auch wenn er von wenigen Autoren schon als Teil der Szene und damit zur Zimmerecke des Mädchens zugehörig angesehen wurde.5 Das haben die Beobachtungen anhand eines die Bildsituation in Lebensgröße nachgebauten Raumes, die zusammen mit der Hochschule für Bildende Künste Dresden durchgeführt wurden, zweifelsfrei ergeben.6 Der gemalte Vorhang setzt das Brieflesende Mädchen am offenen Fenster in Beziehung zu zahlreichen Bildern von Vermeers Zeitgenossen, die Architekturmotive, Stillleben, Porträts oder Genreszenen mit solchen Trompe-l’œil-Vorhängen bereicherten. Abb. 1 Betrachtung von Vermeers Gemälde Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster im Guckkasten, Jørgen Wadum am 9.September 2021
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