15 I Johannes Vermeers Dresdner Gemälde Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster (um 1657–1659) ist einem weltweiten Publikum vertraut (Abb. 1). Es wird als Kunstwerk bewundert, verehrt und verinnerlicht – nach der kürzlich erfolgten Restaurierung, die sein Erscheinungsbild wesentlich verändert hat,2 ebenso wie schon jahrhundertelang zuvor in seiner früheren Gestalt. Die Suggestivkraft und Ausstrahlung dieses Gemäldes erklärt sich aus Vermeers außergewöhnlichem künstlerischen Vermögen, alltägliche Szenen in beeindruckender Lebensnähe wiederzugeben. Beginnend mit der Dresdner Briefleserin schuf er seit Ende der 1650er Jahre Interieurbilder mit Einzelfiguren oder kleinen Gruppen, in denen er die gepflegten Beschäftigungen einer eleganten holländischen Mittelschicht in scheinbar perfektem Realismus schilderte. Die vermeintlich wirklichkeitsgetreue Wiedergabe des gehobenen Alltags in der Republik der Vereinigten Niederlande stellte in der Mitte und der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine besondere Spielart der bürgerlichen Genremalerei dar. Mittels einer nie zuvor dagewesenen handwerklichen Perfektion, Detailliertheit und Raffinesse schufen Maler wie Gerard ter Borch, Gabriel Metsu, Gerard Dou, Jan Steen, Pieter de Hooch und – ganz besonders – Johannes Vermeer Bilder des bürgerlichen Lebens, in denen sie eine überzeugende Illusion der Wirklichkeit hervorbrachten. Der Vergleich der Gemälde Vermeers mit themengleichen Darstellungen seiner Künstlerkollegen zeigt allerdings, in welchem Maße sie sich von deren Werken unterscheiden (Abb. 2).3 In ihrer großen Ruhe, Harmonie und Konzentration gehen Vermeers Innenraumbilder mit Einzelfigur über die erzählerischen, zuweilen anekdotischen Schilderungen seiner Zeitgenossen weit hinaus; oft tragen sie eine betont symbolische oder allegorische Bedeutung. Wie wir erst seit der 2021 vollendeten Restaurierung wissen, gilt dies in besonderem Maße auch für das Brieflesende Mädchen am offenen Fenster. Spätestens seit der Freilegung des Cupido-Bildes an der Rückwand des Raumes ist deutlich, dass Vermeer auch in diesem Werk in eine scheinbar unverfängliche Alltagssituation eine Aussage über die Liebe eingewoben hat. Uta Neidhardt »...une Jeune fille qui lit vis à vis d’une fenêtre...«1 Johannes Vermeers Dresdner Briefleserin nach ihrer Restaurierung 2017 bis 2021 Abb. 2 Pieter de Hooch, Die Goldwägerin um 1664, Öl auf Leinwand, 61 × 53 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, Inv.-Nr. 141B Abb. 1 Johannes Vermeer Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster um 1657–1659, Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 1336
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