Leseprobe

16 In ihrer früheren, durch die fremde Übermalung im Hintergrund verfälschten Erscheinungsweise hatte sich das berühmte Dresdner Werk seit langem ins Bildgedächtnis der Öffentlichkeit fest eingeschrieben (Abb. 3). Die Komposition mit der zierlichen Frauengestalt im Profil vor einer kahlen, hellen Wand steigerte ihre Wirkung ins Ikonenhafte und verlieh dem Gemälde eine beinahe meditative Wirkung. Zahllose Reproduktionen dieses – nachträglich veränderten – Bildes in deutschen Wohnzimmern sprachen und sprechen für dessen große Anziehungskraft und Beliebtheit. Seit etwa drei Jahren ist die Öffentlichkeit nun mit einem restaurierten Gemälde konfrontiert,4 dessen Verwandlung sowohl Zustimmung und Begeisterung als auch Enttäuschung und Unverständnis hervorgerufen hat. Eine statistische Erhebung 5 der Website Essential Vermeer 3.0 ergab, dass 44 Prozent der mehr als 6 000 Nutzer, die sich zu der Frage »Was sind deine Gefühle zum restaurierten Brieflesenden Mädchen am offenen Fenster« geäußert hatten, das Gemälde vorher schöner fanden und/oder unseren Untersuchungsergebnissen, die zur Abnahme der Übermalung führten, nicht glaubten. Mehr als die Hälfte akzeptierte allerdings die Abnahme der Übermalung als Ergebnis umfassender wissenschaftlicher Analysen und der Empfehlung einer internationalen Expertenkommission. Offenbar entsprach das Gemälde in seiner früheren, veränderten Gestalt stärker unseren modernen Sehgewohnheiten als das in seine Urfassung zurückgeführte Original – vermutlich ein Grund für die Missbilligung so mancher Betrachter. Nicht weniger interessant ist die besagte Statistik im Hinblick auf das Vertrauen in die restauratorischen, natur- und kunstwissenschaftlichen Forschungen der involvierten Experten (Abb. 4).6 Denn mit 56 Prozent aller sich dazu äußernden Nutzer war immerhin eine knappe Mehrzahl der Befragten trotz der neuen, ungewohnten Seherfahrung davon überzeugt, dass in Dresden im Sinne Vermeers die richtige Entscheidung getroffen worden war. In der Dresdner Ausstellung »Johannes Vermeer. Vom Innehalten« machten wir 2021 eine weitere wichtige Erfahrung: Besucher, die sich zur Abnahme der Übermalung in der Briefleserin zunächst ablehnend oder zweifelnd äußerten, gewannen in der Ausstellung eine neue Sicht auf das restaurierte Gemälde. Dies war möglich durch den direkten Vergleich mit den anderen dort gezeigten Werken Vermeers (Abb. 5),7 insbesondere aber durch die Neubegegnung mit dem Original, durch die Rezeption der in einem Kabinett zusammengestellten restauratorischen Befunde und naturwissenschaftlichen Grundlagen für die getroffene Entscheidung sowie durch mediale, vertiefende Vermittlungsangebote zum Thema (Abb. 6).8 Vor diesem Hintergrund erschien eine umfassendere Darstellung und Kommentierung dieser außergewöhnlichen Restaurierung, als sie im Ausstellungskatalog von 2021 Aufnahme finden konnte, lohnenswert und geboten. Auch die kunsthistorische Diskussion ging seit Jahrzehnten davon aus, in dem früheren Zustand von Vermeers Dresdner Briefleserin ein vom Künstler im Abb. 3 Johannes Vermeer Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster Zustand vor der Restaurierung Abb. 4 Mitglieder der Expertenkommission bei der Untersuchung des Gemäldes, 9.September 2021

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