12 Kruzifixe Ein Kruzifix in der heutigen Zeit zu gestalten, ist für einen Bildhauer eine der schwierigsten Aufgaben, weil es aus der Geschichte des Christentums unendlich viele Kreuzigungsdarstellungen gibt und die christliche Religion in Europa schwindet. Das Konzept für das »Große Kruzifix«, 1989 (WV 141), im Greifswalder Dom St. Nikolai fasste Kock bereits 23 Jahre zuvor, ausgeführt im »Kleinen Kruzifix II« (1966; WV 74). Ein auffälliges Merkmal ist, dass der Körper nicht vollplastisch vor dem Kreuz, sondern als hochreliefartige Ausformung des Kreuzes ausgebildet ist. Im Gegensatz zum triumphierenden Christus, der die Welt überwunden hat, neigt der am Kreuz Sterbende den Kopf sanft zur Seite auf die Schulter. Der Figur des Gekreuzigten fehlt der Ausdruck des Göttlichen, sie ist rein menschlich. Dargestellt ist der leidende Menschensohn: ein ergreifendes Bild für die unsäglichen Leiden, die auch heute den Menschen von Menschen angetan werden, und gleichzeitig ein Symbol der Versöhnung, zu der nach der Ansicht Kocks alle gelungenen Kunstwerke beitragen. Das traditionelle »INRI« hat Kock durch einen Ausspruch Christi aus den Abschiedsreden ersetzt: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Joh 14,6). Damit sind die Verhöhnung Jesus als »König der Juden« und die Eingrenzung auf ein Volk aufgehoben. Die Aussage wendet sich an alle Menschen. Die drei Begriffe »Weg, Wahrheit, Leben«, weltlich ausgedeutet, waren für Kocks Schaffen und Denken von zentraler Bedeutung. Kock, beeinflusst von Martin Heideggers Philosophie, erklärte seine Werke als »vorausgeworfen in die Zukunft«, die Wahrheit ereigne sich im Entbergen, dem Hervorbringen des Kunstwerkes. Den Philosophen und den Künstler bewegte die Frage nach dem rechten Leben und der Verschonung der Natur. Zum Vergleich mit Kreuzigungsdarstellungen aus dem 20. Jahrhundert kann man die beiden Kruzifixe von Ernst Barlach und Ludwig Gies heranziehen. Barlachs erster, moderat expressiver Entwurf (»Kruzifix I«, 1918) wurde abgelehnt, Güsse der zweiten Fassung befinden sich im Dom zu Güstrow (Abb. 5) und in der Elisabethkirche Marburg.8 Das Kruzifix weicht von der Tradition ab, indem es Christus nicht als Gottessohn, sondern als Mensch darstellt, der jedoch nicht individualisiert ist. Auch seinen persönlichen Stil hat der Künstler im Sinne der Konvention zurückgenommen. »Die einstige Identifizierung Mensch – Gott wollte ihm nun nicht mehr gelingen« (Anita Beloubek-Hammer).9 Das Kruzifix von Ludwig Gies10 für die Lübecker Marienkirche (Abb. 6), Ehrenmal für die im Ersten Weltkrieg Gefallenen, 1921, wurde von Anfang an vehement abgelehnt und als extrem expressionistisch und »kulturbolschewistisch« bekämpft. Die Nationalsozialisten beschlagnahmten es 1937 und führten es in der Ausstellung »Entartete Kunst« 1937 in München vor. Später wurde es vermutlich in einem Berliner Depot für »entartete« Kunstwerke durch Bomben zerstört. Zwischen diesen Darstellungsmöglichkeiten muss sich Kocks »Kreuz mit Korpus«, wie er es nannte, behaupten, das weder traditionell noch typisierend, sondern im Stil und in der Auffassung des Körpers sehr persönlich ist und sich damit als eine neue Interpretation des Motivs aus unserer Zeit erweist. Epitaph Das bekenntnishafte kleine Hochrelief »Wie goldne Sterne«, 1956 (WV 29), aus der Frühzeit, ausführlich besprochen im Werkverzeichnis, ist als Epitaph für den im Krieg gefallenen Freund zu verstehen. Neben der Darstellung eines sitzenden Jünglings im oberen Teil zeigt sich in dieser Tafel die Begabung des Künstlers für die differenzierte Formung der Schrift in Versalien. Die als Dreieckskomposition gestaltete Aktfigur und die Inschrift teilen das Relief nicht in zwei Hälften, sondern sind formal zu einem Ganzen zusammengeschlossen und werden auf die gleiche Bedeutungsebene gehoben, in der die Figur zu einem Erinnerungsbild des Toten und die Schrift zu einer figürlichen Zeichensprache verwandelt werden. Mit Hans Kocks idealistischem Denken stimmen die ausgewählten Gedichtzeilen so treffend überein, als spräche 5 Ernst Barlach Kruzifix II, Bronze nach Gips von 1918, Dom zu Güstrow
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