Leseprobe

13 der Künstler selbst; deshalb ist es unerheblich, wem sie zugeschrieben sind.11 Die teilweise nicht entfernte Gusshaut der Bronzeplatte erweckt die Anmutung von Verwitterung und Vergänglichkeit. Am Strand von Fontana Der Titel der Skulptur »Am Strand von Fontana« (WV 85) verweist auf das gleichnamige Gedicht von James Joyce. Die Hommage an James Joyce bleibt jedoch nicht allgemein, sondern knüpft die Würdigung an ein bestimmtes Gedicht, sodass man sich fragen kann, was Hans Kock bewogen hat, gerade dieses auszuwählen. Nach illustrativen Zügen zu Inhalten des Gedichts sucht man an der Skulptur vergebens, die formal den Figuren der »Sitzenden« (WV 71–73) nahesteht. Von der letzten Strophe, mit der das Gedicht in der Entgegensetzung von dunkler Angst und nicht endender Herzensliebe seinen Höhepunkt erreicht, könnte Kock, der vor allem nachts in der Einsamkeit des Ateliers an seinen Werken arbeitete, berührt und an sein Tun erinnert worden sein: »Around us fear, descending / Darkness of fear above / And in my heart how deep unending / Ache of love!«12 Gegenüber den inneren und äußeren beängstigenden Bedrohungen sah er in der gelungenen Skulptur die Kristallisation eines vollkommenen Kunstwerkes, das die fliehende Zeit überdauert und Menschlichkeit sowie Versöhnung verspricht. Plastische Bildnisse Die Porträtbildhauerei bezeichnete Wilhelm Valentiner als eine »halbfreie Kunst [...], weil sich der Künstler einer fremden Individualität anpassen muss und so der freie Flug der Phantasie gehemmt wird.«13 Trotz der Bindung an das natürliche Aussehen der zu porträtierenden Person muss die plastische Büste den Anspruch einer freien Skulptur erfüllen. Schon an den Porträts von Anna Olde und ihrer Schwester, mit denen Kocks Schaffen beginnt, kann man erkennen, dass der Bildhauer die plastische Form über die abbildhafte Ähnlichkeit stellt. Er geht zwar von der Erscheinung des Augenblicks aus, abstrahiert diese jedoch zu klaren Formen und Flächen, sodass die jugendliche Schönheit der Frauen in einen Ausdruck von Ruhe und Dauer übersetzt wird. So widersprüchlich es zu sein scheint, besteht die Hauptarbeit des Bildhauers beim Porträtieren darin, ein naturalistisches Abbild zu vermeiden, um in der abstrakten plastischen Form eine überzeitliche wesenhafte Ähnlichkeit aufscheinen zu lassen: »[...] so hat es auf dem Weg zu einer anderen Verkörperung als der leiblichen sein fremd-neues BILD-DASEIN gefunden« (Hans Kock),14 wobei »fremd-neu« zusammengehören, da das Bildnis eine plastische Erfindung ist und als neue Hervorbringung immer befremdet. Den Höhepunkt erreichte die Bildniskunst in dem Porträtkopf Martin Heideggers, 1961 und folgende Jahre (WV 43), dessen sieben Bronzegüsse Kock bis zu seinem Lebensende durch Skulpturieren und Ziselieren überarbeitete, um Nuancen des Ausdrucks zu verändern. Durch die Gespräche in den Pausen der Sitzungen und am Abend entwickelte sich zwischen Kock und Heidegger, dessen Schrift »Der Ursprung des Kunstwerks«15 wegweisend für den Künstler war, eine persönliche Nähe. In der kraftvoll-konzentrierten Kopfplastik scheinen sich Geist und Form zu durchdringen, sodass ein Ebenbild des Philosophen entsteht, gespiegelt in einem ebenbürtigen Kunstwerk. 1 Gespräch zwischen Hans Kock und Jens Christian Jensen am 30. Oktober 1972. Zit. n. Kiel 1972. 2 Henri Focillon: Das Leben der Formen, München [o.J.], S. 89. 3 Hamburg 1990/91, S. 12. 4 Eduard Trier: figur und raum. Die Skulptur des XX. Jahrhunderts, Berlin 1960, S. 63f. 5 Ernst Barlach. Das plastische Werk, bearb. von Elisabeth Laur, Güstrow 2006, S. 237, WV 513. 6 Kiel 1972. 7 Shakespeare. Die Sonette, übers. von Wolfgang Kaußen, Frankfurt a.M./Leipzig 1998, S. 10. 8 Laur 2006 (wie Anm. 5), S. 153, WV 263 und 265. 9 Anita Beloubek-Hammer: Ernst Barlach. Plastische Meisterwerke, Leipzig 1996, S. 13. 10 Ludwig Gies. 1987–1966, Ausst.-Kat. Museum Morsbroich Leverkusen, Georg-Kolbe-Museum Berlin und Richard-Haizmann-Museum Niebüll, Leverkusen u.a. 1990. 11 Unter Zweifelhaftes: Epistel, in: Hölderlin. Sämtliche Werke, Bd. 2,2, hg. von Friedrich Beissner, Stuttgart 1951, S. 989. 12 https://www.poetryfoundation.org/ poems/1597002/on-the-beach-at-fontana (aufgerufen am 24. Januar 2025). 13 Wilhelm Valentiner: Georg Kolbe, München 1922, S. 39. 14 Kock 1989, S. 107. 15 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks, in: Holzwege, Frankfurt a.M. 1957, S. 7– 68. 6 Ludwig Gies Kruzifix, um 1921, Eichenholz, Foto von Erich Andres in der Ausstellung »Entartete Kunst« in München 1937

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