Leseprobe

8 Einführung Günther Gercken Das Werkverzeichnis der Skulpturen von Hans Kock, das nicht leicht zu erstellen war, lässt die Vielseitigkeit der bildhauerischen Tätigkeit und den Umfang des Werkes erkennen, der zu Lebzeiten des Künstlers wegen der verstreut an verschiedenen Orten im öffentlichen Raum stehenden Figuren und der vielen Varianten eines Ausgangsmodells nicht zu vermuten war. Da der Künstler seine Modelle stets kritisch überprüfte, über viele Jahre an ihnen weiterarbeitete und von den Zwischenstufen Güsse herstellen ließ, ist schon die Aufstellung der Chronologie ein schwieriges Unterfangen. Hier richtet die zeitliche Abfolge sich nach der Entstehung des Modells im ersten Zustand, und die späteren Abwandlungen sind dieser Zeit zugeordnet. Zwar träumte Kock von der spontan mit der Hand gekneteten und damit fertigen Figur, aber er praktizierte in Wirklichkeit das Gegenteil, indem er seine Modelle durch Verfeinerung kleiner Stellen zu immer neuen Fassungen umarbeitete. Die Stimmigkeit jedes Teils und jeder Kontur mit dem Ganzen war das unerreichbare Ziel für die vollendete Skulptur; eine Skulptur, die nach seinen Worten den Hohlraum ausfüllt, den die Schöpfung für sie freigelassen hat. Dabei sei entscheidend, die Frische des ersten Entwurfs in der höchsten Ausprägung der plastischen Form zu erhalten. Die Entstehung der Plastiken wird nicht in Monaten oder Jahren, sondern in Jahrzehnten gemessen. »Man kann nicht schneller arbeiten, als man lebt«, erklärte Hans Kock.1 Hans Kocks Schaffen fällt in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine Zeit der stilistischen Vielfalt, in der die traditionelle Bildhauerei nur ein geringes Ansehen genoss, verdrängt durch Minimal Art, Readymades, Materialassemblagen und ästhetische Objekte. Kock ließ sich von den verschiedenen Kunstströmungen nicht beirren, arbeitete nicht für den Zeitgeschmack, sondern folgte konsequent seiner Vorstellung von der bildhaften und vollplastischen Figur. Mit seiner ersten großen weiblichen Aktfigur von 1952 (WV 16), die überraschenderweise nicht von Aristide Maillols Stil, sondern von den üppigen Formen der Renoir’schen »Venus Victrix« (Abb. 1) inspiriert ist, setzte er die europäische Tradition der Bildhauerkunst fort. Die abstrakten Tendenzen der Zeit nahm er auf und verschmolz sie mit der figürlichen Bildhaftigkeit, sodass gegenständlich und abstrakt in seinem Werk sich nicht widersprechen. Im Gegensatz zu Henry Moore, der nach eigenen Angaben seine Skulpturen durch Abstraktion von natürlichen Formen schuf, ging Kock von geometrischen Grundformen wie Kugel, Quader oder Pyramide aus, die er durch Abwandlungen zu verlebendigen suchte. Das bildhauerische Tun strebte die Verwandlung der toten Materie in Wesenhaftes an. Mit der »Maritimen Stele« (1. Fassung) von 1964 (WV 56) und der »Galionsfigur« aus dem gleichen Jahr (WV 58) gelang Kock der Durchbruch zu seinem eigenen Stil, der sein weiteres Werk prägte und der, kurz zusammengefasst, damit zu bezeichnen ist, dass er bildhafte Figuren verkörpert, die aus abstrakten Elementen aufgebaut und gegliedert sind. Wenn man dieses Prinzip seiner Arbeit in den Werken erkannt hat, versteht man die Bedeutung seiner Eigenart und seinen Rang in den plastischen Künsten. Beginnend mit statuarischen Figuren entfaltete sich sein Werk über Jahrzehnte in Beständigkeit und Kontinuität zu immer offeneren Formen in sich bewegter Skulpturen. »Einmal losgelöst, hören die Formen nicht auf zu leben, sie verlangen nach Handlung, sie bemächtigen sich ihrerseits jener Tat, die sie hervorgerufen hat, um sie zu vergrößern, zu bestätigen, zu formen. Sie sind die Schöpferinnen der Welt, des Künstlers und des Menschen selbst«, so der französische Kunsthistoriker Henri Focillon.2 Das Wichtigste für den Bildhauer sei die Vertikale, sagte Kock einmal. Sieht man von der plastischen Ausgestaltung ab, bleiben die Vertikale und die Horizontale und ihr Verhältnis zueinander als abstraktes Gerüst seiner Skulpturen übrig. Überzeugende Beispiele für ersteres ist die hochaufragende »Hamburgerin, 1983 (WV 124), für letzteres der »Granitbaum«, 1965 (WV 67), dessen Krone sich in einem schwebenden, in der Mitte unterstützten horizontalen Querbalken ausbreitet, der, wie ein Waagebalken im Gleichgewicht unmerklich zitternd, die Schwere des Materials in der Erscheinung aufhebt. Die chronologische Anordnung nach Entstehungszeiten ist dem Entwicklungsgedanken des Gesamtwerkes verpflichtet, täuscht aber, da Kock gleichzeitig an verschiedenen Projekten arbeitete, eine Heterogenität des 1 Richard Guino und Pierre-Auguste Renoir Venus Victrix, 1914–1916, Musée d’Orsay, Paris

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