Leseprobe

WESTLÖFFEL & OSTKAFFE MORITZ GOTZE

Mit freundlicher Unterstützung

MORITZ GÖTZE WESTLÖFFEL & OSTKAFFE Herausgegeben von Christian Philipsen und Adina Christine Rösch

IN 8 VORWORT ADINA CHRISTINE RÖSCH 12 LEBENSLINIEN RÜDIGER GIEBLER 30 E AST GERMAN POP MORITZ GÖTZE AM SCHALTPULT EINES ORIGINÄREN BILDERKOSMOS PAUL KAISER KÜNSTLER WIDERWILLEN 20 GRENZENLOSE MÖGLICHKEITEN 38

74 GÖTZE UND DIE ALTEN MEISTER ANGELIKA STEINMETZ-OPPELLAND KOSMOS GÖTZE 82 GESCHICHTSSTUNDE 132 122 W HAT IS IN MY BED? MORITZ GÖTZE – DER GRAFIKER ADINA CHRISTINE RÖSCH ANHANG 166 Werkauswahl Ausstellung und Katalog 170 Biografie 172 Quellen und weiterführende Literatur 175 Bildnachweis 176 Impressum HALT 140 CANALETTO UND MORITZ GÖTZE JOCHEN HÖRISCH 115 MÜLLTONNE 116 EIERBECHER VALERIAN HERDAM

RÜDIGER GIEBLER

13 Der jugendliche Held wird 60. Von der Mickey Mouse zum vitaminhaltigen Sauerkraut in der Blechbüchse. Mit rund 60 ausgewählten Blättern möchten Ausstellung und Katalog die Lebensjahre des Künstlers nacherzählen. Das ist bei Weitem nicht der erste biografische Versuch. Götzes Publikations- und Ausstellungsliste ist lang. In der Selbstvermarktung ist er vorbildlich, alle machen mit. Und er ist gern zur Zusammenarbeit bereit. Er hebt alles auf. Götze folgt dem Lebensmotto von Walter Kempowski (1927–2007): »Ich will Archiv werden.«1 Auf Anhieb findet er jedes relevante Blatt und jede Fotografie, ist immer auskunftsfreudig und hat ein gutes Gedächtnis. Das haben wenige drauf. Bei Künstlern kann man sich selten auf die Bilder verlassen, viele verstecken sich gern hinter Nebelbänken der Imagination. Götzes Werk ist selbstreferenziell und erstaunlich ehrlich. Das ist auch ein Grund, warum die Bilder so gut funktionieren. Schon weil Götze von Anfang an zur Sache kommt [Abb.1]. Was er auf das Blatt bringt, ist allgemeinverständlich. Gleichzeitig schaut das Publikum in eine autofiktionale Traumwelt. Er kommt dem Betrachter weit entgegen. Das geht gleich ins Hirn, barrierefrei. Pop-Art ist vom Prinzip her barrierefrei. Götze ist ein beobachtender Leser und Sammler. Ein Bilderfresser, jede Bildgeschichte wird aus- und aufgesaugt, von den Höhlenmalern, Ägypten und Pompeji, gotischer Buchmalerei, den Bildwerkstätten der Renaissance, dem Romantiker Caspar David Friedrich (oder wer auch immer gerade einen runden Geburtstag hat, Tote kommen nicht bei drei auf die Bäume), über die Historienmaler des 19. Jahrhunderts bis zu Tim und Struppi und Lucky Luke, der schneller als sein Schatten schießt und weiter zu der PopArt von Warhol und Rauschenberg; und das ist längst nicht alles. Jedes Heimatmuseum und jede Dorfkirche am Wegesrand wird besucht, Schlachtfelder und Landschaftsparks, der Père Lachaise und der 1 Das Zitat entstammt einer Familienanekdote: Vater (Karl-Georg Kempowski) und Sohn (Walter Kempowski, ca. zehn Jahre alt) gehen spazieren und treffen einen Schulfreund des Vaters (Reeder Cordes), dieser fragt schließlich, um das Kind einzubeziehen: »Na, was willst Du den mal werden?«, und das Kind Walter antwortet: »Ich möchte Archiv werden.« Auskunft über Dr. Katrin Möller-Funck, Kempowski-Archiv-­ Rostock Ein bürgerliches Haus e.V. Wiener Zentralfriedhof und die Gruftkapelle der Schlosskirche St. Aegidien in Bernburg. Seine Kinder weigerten sich irgendwann, mit ihm zu verreisen, wenn er nicht versprach, das Bildungsprogramm auf höchstens nur eine Sehenswürdigkeit pro Tag zu reduzieren. Und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen. In seinem Atelier brennt immer Licht. Man kann es mit der Angst bekommen. Nacht für Nacht. Der Mann steht im permanenten Austausch mit der Welt. Das Rätsel: Was sieht der Künstler, wie funktioniert das Gedächtnis eines Bilderfressers, wie wird das abgespeichert, und warum ist das alles so präsent? Er kollagiert alles und jeden und vor allem sich selbst in die Bildmitte, er ist der Matrose, Steuermann, Fackelträger, 007, Dichterfürst, Gardeleutnant, Forschungsreisende, Astronaut, der kleine Prinz, Adam, Zirkusartist, der Mann über dem Nebelmeer. Und das freundlich ohne Publikumsbelehrung. Da steht zwar immer der Akteur in der Mitte und weist entschlossen in eine Richtung, aber ob in der Richtung des ausgestreckten Zeigefingers Problemlösungen lauern, ist sehr fraglich, vor allem, weil der vom Helden anvisierte Ereignishorizont weit außerhalb des Bildrands der Grafik liegt. Moritz Götze Fotografisches Selbstporträt 1983 [ 1 ]

14 Götzes Weg zum Bild ist nicht der übliche. Er hat als Siebdrucker angefangen, nicht als Zeichner. Gewöhnlich wird über die Zeichnung zuerst das künstlerische Selbstverständnis gewonnen, da entsteht die wörtlich zu nehmende Handschrift. Zeichner arbeiten sich an Alltagseindrücken ab, dokumentieren einfache Gegenstände, Interieurs und urbane Arrangements, Landschaften, Früchte, Pflanzen, Tiere, gerne Dinge, die sich nicht bewegen und wackeln, Muscheln, Nüsse, schrumpelige Südfrüchte, Faltenwürfe – das sind Objekte für Einsteiger. Es entstehen Selbstbefragungen im abgezeichneten Spiegelbild. Das Suchende und Tastende, sogar die Qual gibt solchen Blättern eine rührende Note. Dann fängt das normale Subjekt an, zu malen und die Druckgrafik zu erkunden und auch das unter Komplikationen. Götze ist ohne Demut vor der zeichnerischen Fleißarbeit, keine Qual mit immer wieder wegradierten Konturlinien. Formfindungsprozesse. Das Tasten und Suchen überlässt er anderen. Er hat sich die Mühsal des Naturstudiums erspart und all die Übungen weggelassen. Ohne Schaden. Blätter, denen der Arbeitsfleiß anzusehen ist, gibt es bei ihm nicht. Er geht vom Siebdruck zur Malerei und dann erst zur Zeichnung. Er ist der Arbeiter an der Maschine. Folien bezeichnen, Motive kopieren, Siebe belichten und auswaschen, Passer festlegen, Papier anlegen, das Sieb in die Maschine einspannen, Farben anrühren und auf das Sieb bringen, den Rakel einlegen, Farbe nach Farbe drucken und die Papiere in den Stapeltrockner legen, alle Gerätschaften säubern, die Ränder des Druckstapels beschneiden – das ist eine Reihe von rund zwei Dutzend Arbeitsgängen des Siebdruckers, Nachlässigkeit führt dazu, dass die ganze Auflage nur noch Makulatur ist. Der Mann ist Praktiker, fängt oben an, erschließt sich über die Technik die Grafik. Schaffenskrisen kennt er so wenig wie ein Automechaniker. Perspektive, Anatomie, die Geschichte der Kunst hat für alle relevanten Fragen ausreichende Problemlösungen vorgelegt, abrufbar für den Mechaniker. Großes Vertrauen in den Pantone-Fächer. Der Drucker denkt in RAL-Farben. Malen nach Zahlen. Sein Siebdruck wird geordnet durch eine feine Linie, die die monochromen Farbfelder klar abtrennt. Zum Schluss legen sich noch einmal schwarze Konturen auf das Bild, wie Stege, die eine ausgegossene Farbe eindämmen, um unsaubere Ränder zu verhindern. Die klar getrennten Farbfelder erklären das Schattenlose dieser Welt, in der jedes Objekt von innen erleuchtet scheint. Götze ist Linearzeichner, er modelliert nichts über den Schatten. Ein Peter Schlemihl, der nichts vermisst. Kein Nebel über den Tälern oder der See, Wolken sind nicht aus Zuckerwatte, sondern kompakt wie Bauschaum, keine Farbverläufe in den Binnenflächen, selbst das Erröten der jungen Damen zeigt sich bei Götze in klar konturierten rosafarbenen, symmetrischen Ovalen.

15 selbst vermarktet, alles mit Anspruch, immer dabei sein. Götze sagt, seine Hemmungslosigkeit im Anknüpfen und Pflegen von Freundschaften und Bekanntschaften brachte ihm die guten und weiterführenden Kontakte. Mit dem kuriosen Erfolg, dass er als Jugendlicher Drucktechniken erlernte, weil die genervten Gastgeber, wie der Student der Grafik in Halle (Saale), Erich Wellhöfer, und der Siebdrucker Ekkeland Götze (nicht verwandt) und Helge Leiberg, beide in Dresden, ihm in den Werkstätten etwas in die Hand gaben, damit er beschäftigt ist. Er nimmt sich mit Fleiß der Sachen an [Abb. 3, 4]. Nächstes Jubiläum: Vor 40 Jahren lernt Götze seine spätere Ehefrau kennen, von da an ist sie der sozialisierende Halt im Leben des Chaoten. Viele der Frauenbilder in seinem Werk sind Porträts seiner Frau. Rollenmodell, Gefährtin in allen Abenteuern, ordnende Hand, Hausfrau und Mutter – klingt recht konservativ, aber funktioniert prächtig und gibt schöne Bilder. Moritz Götze wird am Ende der DDR bei der freischaffenden Keramikerin angestellt, bekommt eine Steuernummer und ist für die Behörden der DDR nun eine legitimierte Existenz. S. 40–45 [ 3 ] Götze in der Werkstadt der halleschen Malerin und Grafikerin Susanne Berner, 1985 [ 4 ] Im Atelier von Bärbel Bohley in Berlin, Götze mit seiner damaligen Freundin Lila Bohley, um 1981 Ende 1987 wird Moritz Götze auffällig, eine Stasiakte hat er da schon, nun macht er auch noch Ausstellungen, die Publikum, Künstler, Kunstwissenschaftler und Geheimdienstler in Verwirrung stürzen. Eine Ausstellung in der Galerie Schaufenster im Brecht-Haus Berlin war ein guter Start, brachte regen Zulauf und gute Verkäufe. Etwas, an das sich der Künstler von nun an zu gewöhnen hat. Die Betrachter sind perplex, der Künstler ist mit einem Sprung auf der Bühne. Er wird in Empfang genommen, als hätte man nur auf ihn gewartet. Der Geheimdienst versucht gar nicht erst, über die Geheimsprache der Grafiken nachzudenken. Er war nur irritiert, weil die Party nach der Ausstellung bei einer Nichte von Bärbel Bohley stattfand und vermutete Verschwörung. Die Ausstellung wurde in der Zeitschrift Bildenden Kunst in einem wohlwollenden Artikel besprochen, damit war Götze, obwohl noch kein Mitglied im Verband Bildender Künstler der DDR, als Künstler ausreichend akzeptiert. Er konnte weiter drucken [Abb. 2]. Man möchte ein neues Wort erfinden statt Autodidakt, Selbstmachmann gibt es schon, selbst geschaffen, selbst erfunden, selbst ausgebildet, [ 2 ] Artikel von Heinz Havemeister in der Bildenden Kunst zu der von Peter Lang im Herbst 1987 kuratierten Ausstellung in der Galerie Schaufenster im Brecht-Haus Berlin

16 Götze kollagiert. Das ergibt mitunter recht verwirrende, aber immer prächtige Muster. Ein Space Shuttle liegt auf der Kokosmatte, und die Geishas wundern sich. Ab da geht es los, das kommt aus dem Nichts, alles, was bis dahin auf das Papier kam, war zwar politisch engagiert und von anrührendem pubertären Eifer erfüllt, aber grafisch dilettantisch. Der Siebdruck klärt das Wirre im Engagement. Die Technik ordnet den Bildraum. Die Konzentration beim Farbdruck kommt der Komposition der Blätter zugute. Man muss ein klares Konzept für die Abläufe haben, um mit transparenten Farben Töne zu mischen, von den hellen in die dunklen arbeiten, keine Details vergessen, damit keine Leerstellen entstehen. Von nun an kommt man bei den Bildbeschreibungen ins Schwärmen. Götze hat ein gutes System gefunden. Seine Räume haben offene Wände, die Statik hält durch das fantasievolle Muster der Tapeten. Durch die Lücken in der Stellage leuchten seltsame Ausblicke bis in den Weltraum, unendliche Weiten. Die Zukunft schlägt in die Gegenwart ein. Das sind Hirngespinste, das Kleine wird groß und das Große klein, wie im Traum, wo auch jede absurde Konstellation akzeptiert wird. Zeitsprünge, Bodenlosigkeit, Halluzinationen, Aufheben der Schwerkraft, Tote stehen auf, Tiere und Dinge sprechen, Rätsel müssen gelöst werden, um durch das Labyrinth zu kommen. Die dargestellten Personen wechseln ihre Hierarchien, Konventionen sind aufgehoben. Er spielt mit Zufällen und der Verwendung von Gedächtnismarkern und Warenzeichen. Und er spielt mit dem Absichtslosen, zeigt Identifikationsobjekte, die Menge der Alltagsgegenstände liegt im kreativen Chaos auf der Bühne. Das ist sinnlich und unaufgeräumt. Und egal, was abgehandelt wird – Weimarer Klassik, Nibelungensage oder Deutsche Einheit –, irgendwo liegen ein Mobiltelefon, angerissene Zigarettenpackungen, Notizzettel und zerknautschte Getränkebüchsen rum. Ab Ende der 1980er-Jahre sind die Blätter durch klare Farbflächen und eigenwillige Bedeutungsperspektiven geordnet, Parolen in Großschrift, filigrane Binnenzeichnungen und expressive Einschübe lebendiger Flächen. Merke: Götze malt und denkt in realen Bildern. Als gäbe es da immer ein Drehbuch, ein Libretto, ein Briefing vor dem Einsatz, Lagebesprechungen vor der Operation. Aber die Realität ist nicht alles. »In den Wüsten der Information brauchen wir Oasen, dafür ist Lyrik da.«2 Und nun kommt der den Zeitnerv treffende Sprachwitz dazu. Götze zeigt sich als Schriftkünstler. In seiner Grafik ist die Schrift eine weitere Ebene, in den Titeln oder den Sprechblasen. Als Selbstvermarkter, der jeden Auftritt mit selbst entworfenen Plakaten und Einladungen begleitet, entwickelt er sich zum Layouter und Kalligrafen. Damit hätte nun auch keiner gerechnet – mit einem guten Händchen für gute Sachen durch Plakatkunst dienlich zu sein [ Abb. 5 ]. Er arbeitet 2 Kluge 2018, S. 83. 3 Matthias Baader Holst, zwischen bunt und bestialisch: all die toten albanier meines surfbretts, Hasen-Verlag 1990. 25 ganzseitige Siebdrucke von Moritz Götze. Gedruckt in 200 vom Dichter und Künstler signierten Exemplaren. S. 53 [ 5 ] Plakat zu einer Auktion Oktober 1989 S. 46

17 mit Scheren- oder eher Cutterschnitten aus lichtundurchdringlichem Karton. Diese Schrift hat Signalwirkung, die GötzeNorm mit gutem Wiedererkennungswert. Götze pflegt einen souveränen Umgang mit der Orthografie. Das sieht manchmal wie Absicht aus, wie Ironie und Scherz. Schriftsprache ist Verhandlungssache. Normen werden überbewertet. Für Götze ist das Arbeit im Prozess, Regelverstöße lässt er als Fehler sichtbar stehen. Der schöne Reiz der groben Korrektur erinnert daran, dass Kommunikation immer von Missverständnissen durchwachsen ist. Selten erreicht den Empfänger etwas so, wie es sich der Absender gedacht hat. Die Anregung für die Stabreime in den Titeln und Sprechblasen der Akteure kam durch die assoziativen Texte von Matthias BAADER Holst (1962– 1990). Götze verband eine enge Freundschaft mit dem halleschen Poeten. Holst trat zu den Eröffnungen auf, und die erste Publikation seiner Texte besorgte Götze als gebundenes Siebdruckbuch schon unter dem Label Hasenverlag.3 Aus so etwas hätten Andere behaglich größere Werkgruppen gemacht. Das wäre ausbaufähig gewesen, schon wegen des unschlagbaren Sujets – hinterhältige Soldaten, die sich im Gebüsch verstecken – und wegen der spontanen, fleckig kleckernden und krakligen Zeichnung. Götze hat es drauf, aber meidet ansonsten die Impression. Ausbaufähig auch wegen des politischen Motivs. Möglicherweise hat ihn das Beispiel seines Vaters Wasja Götze abgeschreckt – einer der drei Pop-Art-Künstler der DDR. Ein großartiger Maler, von dem Moritz Götze vieles gelernt hat, wenn auch unter Reibereien. Wasja Götze sagt selbst, dass ihm mit dem Ende der DDR seine Quälgeister, aber auch die Motive verlustig gingen. Götze springt da gleich wieder ab. Von da an zeigt sich sein Talent zum Staatsmaler im wiedervereinten Deutschland, alles, was klemmt in der Geschichte, bringt er auf die Bühne. Ein riesiger Berg, Geschichtsmüll als poppebunte Sondermülldeponie, Jeder findet das, was er sich wünscht. Und überall spuken die Gespenster der Vergangenheit. Die wollen nichts Böses, sie wollen nur dabei sein, ihre alten Rituale aufführen. Die Paraden, Empfänge, als hätte Adolf von Menzel (1815–1905) sein Eisenwalzwerk und das Flötenkonzert und die Krönung Friedrich Wilhelms I. auf einmal gemalt. Historie ist unübersichtlich. Der pädagogische Effekt fraglich. Als Trauerbewältigung werden unten rechts die Heroenköpfe der Sozialkämpfe in dem Zitat der Liebknecht-Pieta von Käthe Kollwitz (1867– 1945) ausgetauscht, das geht fast unter in der Bildfülle. Auch wenn das immer funktioniert, was er da zusammenmixt, schwingt bei den Betrachtern die Frage mit: Hat er eigentlich eine Ahnung davon, was er da macht? Das hat Spiegelbildfunktion. Haben wir eine Ahnung von dem, was wir anstellen? Die Inseldarstellungen im Werk vom Moritz Götze sind eine eigens zu untersuchende Topografie, Forschungsgebiet für aufstrebende Kunstwissenschaftlerinnen und Kunstwissenschaftler. Die Insel in der Vorstellungswelt Götzes ist Schauplatz von Robinsonaden. Sehnsuchtsort oder dystopischer Endpunkt einer katastrophalen Entwicklung: Gilligans Insel,4 Lummerland, Eisenbahnplatte, Schrebergarten, die Insel Felsenburg, die Spitze des Berges Ararat mit der gestrandeten Arche, das Eiland aus Shakespeares Der Sturm, das Happy End eines Katastrophenfilms. Verbannungs- oder Urlaubsort? Auf alle Fälle kommt man zu sich selbst. Die Akteure, die einzigen Überlebenden, stehen in gelassener Haltung zwischen den Trümmern einer ramponierten Zivilisation. Alles bereinigt, das Treibgut ist nicht Müll, sondern eine Ansammlung sprechender Artefakte. Das Pendant zur Insel ist der Planet des kleinen Prinzen. Da ist man noch ungestörter. Es ist eine unnütze Frage, welches Buch oder welche Schallplatte Götze mit auf die einsame Insel mitnehmen würde. Die Antwort aus dem das Gedächtnis trainierenden Kinderspiel »Ich packe 4 Gilligan’s Island, amerikanische Sitcom, 98 Folgen, CBS 1964– 1967. S. 99 S. 50 S. 144–145

PAUL KAISER MORITZ GÖTZE AM SCHALTPULT EINES ORIGINÄREN BILDERKOSMOS

31 Der Kunstbetrieb ist sich weitgehend darin einig, Moritz Götzes farbkräftige Bildproduktion für eine zeitgemäße Pop-Art des 21. Jahrhunderts zu halten. Hinzu tritt die Einschätzung, dass in seiner Kunst der Gestus des romantischen Künstlers in das postmoderne Zeitalter eingetreten sei, was nicht zuletzt daran liegen mag, dass in seinen Werken immer mal wieder die blaue Blume der Frühromantiker und das am Netzkabel hängende Smartphone des digitalen Nomaden gemeinsam zitiert werden. Sein Markenzeichen, so herrscht Konsens, ist der gemeisterte Balanceakt zwischen dem Populären und Singulären, zwischen Pathos und Ironie, zwischen Leichtigkeit und Tiefe, Romantik und Rokoko. Und die mit solchen Herleitungen durchwirkten Elogen an den 1964 in Halle (Saale) geborenen Maler – der nun vorm Erreichen seines 60. Lebensjahres im Zenit seiner ungewöhnlichen Laufbahn als Künstler steht – reichen bis hin zum nachhaltigen Urteil des Weggefährten Christoph Tannert (*1955), der einmal knapp und zutreffend formuliert hatte, Moritz Götze sei für ihn einfach ein genialer »Kidnapper auf dem Feld des Populären«.1 POP-ART IN DER DDR Wenn man sich dem Mikro- und Makrokosmos seiner Darstellungen nähert, wird schnell deutlich, dass es sich bei Moritz Götzes Bildwelten nicht um affirmative oder leicht zu konsumierende Zeichensysteme handelt, welche die Muster und Mittel der Pop-Art mit gehörigem Zeitverzug adaptieren. Sein spezifischer East German Pop ist vollends originär und besteht aus einer ganz eigenen Mixtur der Elemente. Zwar zeigt sich bei ihm die Einflusskraft der amerikanischen Pop-Art – etwas stärker noch die Prägung durch seine zeitgleich entstandene englische Variante, die der effektvoll verbildlichten Ding- und Massenkultur des Kapitalismus eher distanziert-ironisch gegenüberstand, doch gründet Moritz Götzes Pop-Art auf der besonderen Geschichte dieser Kunstform in der DDR. Insofern handelt es sich bei seinem Bezug keinesfalls um eine epigonale Adaption, vielmehr um eine eigenständige Entwicklung unter den Bedingungen eines repressiven Systems. Als erster Künstler im Osten Deutschlands war es der Dresdner Künstler Willy Wolff (1905–1985), der im Nachklang zweier Englandreisen (1957 und 1958) ab Mitte der 1960er-Jahre mit Strukturelementen der Pop-Art experimentiert hatte. Nicht die Artefakte der kapitalistischen Massenproduktion und Konsumwelt, die zum Motivarsenal der westlichen Pop-Art wurden, interessierten Wolff, sondern die Fermente der ideologischen Selbstfeier des kommunistischen Systems. Sein Gemälde Lenin zum 100. Geburtstag von 1970 [ Abb. 1 ] thematisiert beispielhaft die Ermattung der kommunistischen Utopie und die damit einhergehende propagandistische Stilisierung ihres Führungspersonals. Der einstige Meisterschüler von Otto Dix (1891–1969), 1 Tannert 1995, S. 4–7. [ 1 ] Willy Wolff Lenin zum 100. Geburtstag 1970, Nachlass Willy Wolff, Privatbesitz

32 der sich in den 1960er-Jahren seinen Lebensunterhalt als Führungsassistent der Staatlichen Kunstsammlungen verdienen musste, stieß mit seinen Werken lange Zeit auf gründliche Ablehnung, die erst durch eine museale Ehrung 1976 im Pretiosensaal des Dresdner Schlosses abgeschwächt werden konnte. Die Chance auf eine direkte Begegnung mit Pop-Art-Originalen, wie sie Willy Wolff noch erleben konnte, hatten jüngere Künstler wie Wasja Götze und Hans Ticha (*1940) später nicht. Für die beiden, welche erst nach dem Mauerbau 1961 ihren Berufsweg beschritten, blieb daher in der hermetisch vom Westen abgeschirmten DDR nur der sekundäre Stellvertreterblick auf das internationale Kunstgeschehen. So steckte sich Wasja Götze, angetrieben von einem gehörigen »Hunger nach Bildern«, in einer Art ästhetischen Mundraubes an den Ständen der Westverlage auf der Leipziger Buchmesse die betreffenden Kataloge ungefragt in die Tasche. Und für den Ostberliner Maler Hans Ticha gerieten selbst propagandistische Texte, welche die westliche Kunst zum Teufelszeug erklärten, zu einem schöpferischen Initialerlebnis: So sah er seine ersten Pop-Art-Werke in Michael Lifschitz’s Krise des Hässlichen, einer 1971 im Dresdner Verlag der Kunst erschienenen Abrechnung mit der Westkunst vom Kubismus zur Pop-Art, die neben dem unverdaulichen Text schlecht gedruckte Schwarz-Weiß-Abbildungen einiger Werke von Andy Warhol und Tom Wesselmann (1931–2004) enthielt. Die verordnete Isolation der beiden Akteure – Wasja Götze und Hans Ticha lernten sich erst 2019 (!) in der vom Autor zusammen mit Christoph Tannert kuratierten Leipziger Ausstellung Point of No Return persönlich kennen2 – macht die Situation deutlich, in der diese Maler in den 1960er- und 1970er-Jahren im DDR-Kunstsystem in Halle (Saale) und im Ostberliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg unabhängig voneinander operierten. Wasja Götze war dabei einer der am stärksten von staatlicher Repression betroffenen Künstler. Diese Feindsetzung begann bereits kurz nach seinem Studium an der Burg Giebichenstein in Halle (Saale). Wegen einer inoffiziellen »Hofausstellung« im Innenhof seines Wohnhauses wurde er im Mai 1969 in Halle zur Persona non grata erklärt; 1976 gehörte er zu den Erstunterzeichnern der Petition von Kunstschaffenden gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann (*1936). Der Ostberliner Maler, Grafiker und Buchillustrator Hans Ticha begann 1979 mit einem Werkzyklus von Gemälden, die er später »politische« Bilder nannte. Das Besondere an diesen in den 1980er-Jahren entstandenen Werken war nicht nur der Rückgriff auf Stilmittel der PopArt, sondern ebenso, dass sich Tichas Zyklus in ganz direkter Weise hochpolitischen Themen zuwendete, was den Bildern den Zugang zur Öffentlichkeit erst nach dem Ende der DDR ermöglichte. Beide Künstler zeigten die obskure Welt der Diktatur – die Todeszone der Mauer, den Stechschritt der Mitläufer und die 2 Vgl. Kaiser/Tannert/ Weidinger 2019, S. 142f. u. S. 378–381. 3 Vgl. Kaiser: 2015, S. 9–18 u. Kaiser 2016, S. 93–109. [ 2 ] Hans Ticha Unser Ziel, 1986/1991 Courtesy Galerie LÄKEMÄKER GmbH

33 hohle Propaganda der SED. Hans Ticha transferierte den offiziellen »Agit-Prop« (Kurzform für »Agitation und Propaganda«) des Systems in seine von ihm »Agit-Pop« genannte Kunstform, und Wasja Götze integrierte neben dem Grotesken des DDRLebens auch die bedrückenden Aspekte von Ausreise und Agonie.3 Der sich mit Mitteln der Pop-Art ausdrückende »neue Realismus« von nonkonformen Malern wie Willy Wolff, Wasja Götze und Hans Ticha [ Abb. 2, 3 ] unterschied sich vom staatsoffiziellen RealismusModell vor allem dadurch, dass er die Diskurse einer Gegenmoral und eines »Lebens in Wahrheit« [ 3 ] Wasja Götze Das rote Telephon, 1971 Privatbesitz in die künstlerische Produktion einschloss, anstatt sie als außerkünstlerische Einflussfaktoren aus einem purifizierten Bereich ästhetischer Selbstbestimmung zu verweisen. In diesem Sinne mussten sich Walter Womackas (1925–2010) spätsozialistische Pop-Art-Reminiszenzen, etwa in dem vom Sammler Peter Ludwig (1925–1996) teilweise erworbenen Zyklus Erika Steinführer I–IV (1980–1984), als ein fehlschlagender Versuch erweisen, mit ein wenig Rauschenberg (1925–2008) den Anschluss an die jüngeren Maler herzustellen und damit im Feld des Ästhetischen eine street credibility zu erlangen.

[ 9 ] WHAT IS IN MY BED? | 1986 Die Serigrafie ist ein Meilenstein in Götzes Schaffen. Sie ermöglichte ihm erste Ausstellungen in der bekannten Gosenschenke in Leipzig und in der Galerie Schaufenster in Berlin.

47 [ 10 ] ÉGYPTE HISTOIRE DE MAURICE GÖ | 1987

[ 14 ] DOSENÖFFNER | 1987

53 [ 15 ] WESTLÖFFEL & OSTKAFFE | 1988

[ 29 | 30 ] PRINZENRAUB | Grafikmappe (11 Blätter) | 1992 Der Prinzenraub von Altenburg und Die Nibelungen zählen zu Götzes ersten bedeutenden grafischen Serien. Hierbei treffen mittelalterliche Buch- und Miniaturmalerei auf amerikanischen Pop. Am 8. Juli 1455 erlebten die Sachsen den berüchtigsten Fall von Kidnapping in ihrer Geschichte: Ritter Kunz von Kauffungen entführte aus dem Altenburger Schloss die Söhne seines Landesvaters, des Kurfürsten Friedrich des Sanftmütigen. Moritz Götze hat die Verwicklungen dieses bedeutsamen Kriminalfalls in seiner eigenwilligen Handschrift zu einem detailreichen Comic verarbeitet. STURMGELÄUT

67 WER IST WER

ANGELIKA STEINMETZ-OPPELLAND

75 Was hat ein zeitgenössischer Künstler im Sinn, der regelmäßig Motive aus der Geschichte der bildenden Kunst und der Medien zitiert? Im Werk von Moritz Götze hat der Einsatz von Anspielungen, Zitaten und Versatzstücken eine so zentrale Rolle, dass sich ein näheres Hinschauen auf diese Methode lohnt, für die es zwar immer wieder Beispiele in der bildenden Kunst gab, welche aber meistens individuelle, aus der jeweiligen besonderen Interessenlage und dem Selbstverständnis von Künstlerinnen und Künstlern hervorgehende Lösungen geblieben sind. Im Schaffen von Moritz Götze geht es allerdings nicht um bloßes Wiederholen von Motiven. Sein Interesse an in der Geschichte der Kunst bereits formulierten Bildfindungen ist offensichtlich, aber er verwandelt sie seinem persönlichen Darstellungskonzept nach auf sehr verschiedenen Ebenen. Die Spannweite der Möglichkeiten reicht dabei von der unmittelbaren Abbildung über die Hommage, die Paraphrase, die Verwendung von Fundstücken bis hin zur piktogrammartigen Reduzierung. Das Interesse an Sujets, die für eine Übernahme infrage kommen, beschränkt sich durchaus nicht auf sogenannte »Alte Meister« im Sinne einer Einteilung, wie sie beispielsweise für die Ordnung von Museumssammlungen angewandt wird. Das breite Feld der Kunstgeschichte vom 15. bis zum 20. Jahrhundert bildet für Moritz Götze einen Steinbruch für Motive und Figuren. Er greift dabei auch auf Comics und Pop-Art (Variationen über Warhols berühmte Campbell’s Soup Cans) zu, sofern er dort bildliche Formulierungen findet, die, innerhalb seines eigenen Symbolsystems aufladbar, als Auslöser von Assoziationen und als Chiffren für ganze Themenfelder wirken können. In der kleinen Radierung Mädchen mit Tulpe [Abb. 1] erkennt jede und jeder, vor allem mit der Berliner Museumslandschaft vertraute Betrachtende, das um 1470 entstandene Bildnis einer jungen Dame [Abb. 2] des flämischen Malers Petrus Christus, das zu den Highlights der Berliner Gemäldegalerie zählt. Ganz im Sinne der Gesetze druckgrafischer Kopien erscheint das Motiv bei Götze [ 1 ] Moritz Götze Mädchen mit Tulpe 2023 [ 2 ] Petrus Christus Bildnis einer jungen Frau, um 1470 Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin

76 spiegelverkehrt. In der Betonung dieses Vorgangs wird sozusagen noch einmal nachdrücklich auf die Herleitung von einem Urbild hingewiesen. Der direkte Vergleich legt dann allerdings die Umarbeitung offen, wobei einige der für Götzes Bildkosmos charakteristischen Mittel verwendet werden. Den Hintergrund bildet jetzt das strenge, wenn auch unregelmäßige Raster aus vertikalen, horizontalen und diagonalen Linien, das in Götzes Druckgrafik immer wieder zum Einsatz kommt. Vor allem aber wird eine Art von Brüstung vor das Porträt gesetzt, auf der eine einzelne Tulpe liegt, auch diese ein oft eingesetztes Requisit aus dem eigenen Motivfundus. Das mag auf die seit dem Mittelalter übliche Blumensymbolik anspielen, mit der vor allem Mariendarstellungen um eine zusätzliche Symbolebene erweitert wurden, aber auch eine Funktion innerhalb des eigenen ikonografischen Systems haben. Im Zentrum des Interesses aber steht das Gesicht; im Original hat es, ebenso wie in der Übertragung in das charakteristische Götze-Gesichtsschema, die gleiche undurchdringliche Verschlossenheit und Magie. Es mag sich bei der kleinen Radierung um eine Reverenz gegenüber dem darstellerischen Vermögen des Petrus Christus handeln oder um ein Überprüfen der eigenen gestalterischen Sprache an einem sogenannten Alten Meister gehen – die Hommage an in der Kunstgeschichte vorgefundene Bildschöpfungen spielt auf jeden Fall eine große Rolle. Ähnlich verhält es sich wohl mit dem 2008 entstandenen Siebdruck Pan tröstet Psyche. Hier steht die von Reinhold Begas im Jahr 1878 geschaffene Marmorgruppe in der Alten Nationalgalerie Berlin im Mittelpunkt eines Stilllebens von Skizzen und alltäglichen Utensilien auf dem Arbeitstisch des Künstlers. Die im Original kompakte und gleichzeitig raumbildende Skulptur wird dabei ohne verändernde Eingriffe abgebildet. Lediglich die festumrissene Betonung des Umrisses und die schablonierende Übertragung in die Fläche ordnet dieses Bildzitat in die Handschrift von Moritz Götze ein. Von tiefer Wertschätzung zeugt auch der in mehreren farblichen Varianten durchgespielte Siebdruck Morgenröte [Abb. 4–7], mit dem Götze sich vor gleich zwei Künstlerpersönlichkeiten verneigt, vor Georg Friedrich Kersting (1785–1847) und vor Caspar David Friedrich (1774–1840) [Abb. 3]. Die 1810 entstandene aquarellierte Bleistiftzeichnung Morgenröte im Besitz des Kupferstichkabinetts in Berlin zeigt Friedrich als Rückenfigur mit über der Schulter getragener Zeichentasche, den Blick in die Weite gerichtet, als Wanderer auf dem Weg ins Riesengebirge. Götze setzt sie entweder in einen vollkommen abstrakten Hintergrund oder er umgibt sie mit einer ungebrochen leuchtenden Fläche aus [ 3 ] Moritz Götze Unterwegs, 2023 S. 148

[ 4–7 ] Moritz Götze Morgenröte (blau, gold, grau, violett) 2023

93 [ 37 ] METAMORPHOSEN AM MEERESGRUND | 2018

94 [ 38 ] LIGER | 2023

100 [ 41 ] MANN UND INSEKT | 2000

[ 42 ] BLAUER WEG | 2002

102 [ 43 ] ABGEBRANNT | 2021

103 [ 44 ] MISS MIEZ | 2019

ADINA CHRISTINE RÖSCH MORITZ GÖTZE – DER GRAFIKER

123 Das erste, was beim Gedanken an Moritz Götze in den Sinn kommt, sind seine großformatigen, farbgewaltigen Gemälde und seine schillernden Emaille-Arbeiten; vielleicht auch der berühmte Tintenfass-Wurf. Am 10. November 2009, rechtzeitig zum 526. Geburtstag Martin Luthers, stellte er gemeinsam mit Bazon Brock dessen Wurf des Tintenfasses nach dem Teufel in der Lutherstube nach. Götzes Grafiken, die inhaltlich und stilistisch in nichts seinen Gemälden [Abb. 1, 2] nachstehen, sind nicht unbedingt sofort präsent – und das zu Unrecht. Moritz Götze hat seine künstlerische Laufbahn mit Papierarbeiten begonnen und ist diesem Medium bis heute treu geblieben. Schule oder Studium sagten dem jungen Moritz Götze1 so gar nicht zu. Vielmehr war die Schulzeit eine Last, auch weil er als Kind aus einer Künstlerfamilie besonders beäugt wurde. Sein Vater Wasja Götze zählt zu einem der wenigen Pop-Art-Künstler in Ostdeutschland. Das Sympathisieren mit westlicher Kunst ließ ihn in den Fokus der Behörden geraten. Moritz Götzes Mutter Inge unterrichtete an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein 1 Vgl. Rothamel 2014, S. 8–10. [ 1 | 2 ] Kosmischer Staub, 2015, Serigrafie und Kosmischer Staub (nach Caspar David Friedrich), 2010 Emaillemalerei in Halle (Saale) Textilgestaltung und verdiente damit den Lebensunterhalt der Familie. Im Götze’schen Künstlerhaushalt haben sich viele interessante Persönlichkeiten die Klinke in die Hand gegeben und – wie sollte es auch anders sein – Moritz Götze nachhaltig beeinflusst. Allerdings verkehrte sich der eigentlich glückliche Umstand, ständig von Kunst und Künstlern umgeben zu sein, erst einmal ins Gegenteil. Daher begann Götze zunächst eine solide Tischlerlehre in Bad Kösen. Bei zahlreichen Fahrten nach Berlin, die er in dieser Zeit unternahm, lernte er im Haus von Ekkehard Maaß in Prenzlauer Berg Künstler und Schriftsteller wie Conny Schleime, Sascha Anderson und Ralf Kerbach kennen. Diese Begegnungen legten den Grundstein seiner Leidenschaft für Künstlerbücher und Punkmusik. Mit seiner Punkband Größenwahn trat er als Gitarrist und Sänger in den 1980er-Jahren mehrfach auf. Die Organisation von Punkkonzerten führte zur Beobachtung durch die staatliche Obrigkeit. Das hielt ihn jedoch nicht ab, die für die Auftritte benötigten Plakate und Einladungen zu gestalten – losgelöst von bekannten Formen, die so

124 gar nicht zur neuen Alternativszene passen wollten. Damit drängte das künstlerische Potenzial Götzes, das in ihm schlummerte, endgültig an die Oberfläche. Der Besuch in der Radierwerkstatt des Dresdner Künstlers Helge Leiberg besiegelte schließlich Moritz Götzes Passion für Grafik. In den 1980er-Jahren herrschte in der DDR eine »Leere, die mit heftiger, improvisierter, den knappen und aggressiven Arrangements der neuen Musik entsprechenden Kunst gefüllt werden muss­ [te]«.2 Entsprechend spiegeln die frühen Arbeiten von Götze wie Dancing fool von 1981 oder Hinter ihm Her aus dem Jahr 1985 die Beschränktheit des Lebens hinter der Mauer wider und den Wunsch nach Ausbruch aus den staatlichen Zwängen. Diese Gefühle verstärkten sich, als Götzes Jugendliebe 1984 in die BRD ging und er beschloss, ihr zu folgen. Der gestellte Ausreiseantrag verschlimmerte seine Situation, indem ihm der Ausweis entzogen wurde und er dazu gezwungen wurde, als Betriebshandwerker im Hallenser Kaufhaus zu arbeiten. Dann aber geschah das Unvorhersehbare: Auf der Silvesterfete 1984 traf er auf Grita Schulze, die damals noch Keramikstudentin an der Burg Giebichenstein war. Gerd Westermann nennt es »die Geburtsstunde der fröhlichen Bilderwelt, die in zahlreichen Arbeiten des Künstlers ihren Ausdruck findet«.3 Mit Grita fand Moritz Götze nicht nur sein privates Glück, auch künstlerisch begab er sich auf die Straße des Erfolgs. 1985 entdeckte er den Siebdruck als künstlerische Technik für sich, nachdem er bei Ekkeland Götze in Dresden-Wachwitz eine Privatlehre absolvierte. Im Anschluss entstanden in seiner im gleichen Jahr gegründeten Grafikwerkstatt zahlreiche Plakate und Siebdrucke. Das glückliche Zusammenfinden mit seiner heutigen Frau und die Hinwendung zu einer neuen Drucktechnik zeigt sich in den Serigrafien Grita I – III von 1985. Die S. 23 S. 24–25 schöne schwarzhaarige Grita ist im Seitenprofil lasziv rauchend dargestellt. Während auf dem ersten Blatt der Hintergrund monochrom grün ist und schräg durch einen gezackten, rot hinterlegten, schwarzen Linienblitz durchbrochen wird, werden die Hintergründe auf den Folgeblättern durch Muster sowie Farben immer wilder. Diese ersten Siebdrucke sagen viel über den Künstler und Autodidakten Moritz Götze aus und lassen Vorbilder wie David Hockney, Allen Jones oder Bob Rauschenberg, deutsche Künstler wie KP Brehmer, Wolfgang Mattheuer, Sigmar Polke, Wolf Vostell und seinen Vater Wasja Götze erkennen. Für Moritz Götze ist Pop-Art kein ausschließlich angloamerikanisches Phänomen. Auch versteht er nicht Richard Hamilton als Vorläufer der modernen PopArt, sondern Marsden Hartley,4 der 1914 in Berlin zur Avantgarde gehörte, ebenso wie Richard Lindner.5 Götze spielt mit dem Begriff Pop-Art und reizt ihn bis an seine Grenzen aus. (Kunst-)historisches genauso wie Dinge aus der modernen Alltagswelt finden sich in seinen Comic-artigen, an die Pop-Art angelehnten Werken wieder. Zwar moralisiert Götze nie offenkundig, dennoch täuscht die vordergründig intendierte Leichtigkeit seiner Arbeiten oftmals und überspielt den gesellschaftskritischen Duktus. Der Schlüssel zum tieferen Verständnis der Götze’schen Bilderwelt setzt daher ein ähnlich reichhaltiges Wissen wie das des Künstlers voraus. Manchmal treffen bei Moritz Götze aber auch Sammellust, Verfügbarkeit und Zufall aufeinander. Die Serigrafie What is in my bed? von 1986 gibt Einblick in ein spärlich eingerichtetes Zimmer. Die linke Wand ist gelb, die rechte trägt eine grau-weiß-rot gestreifte Tapete mit einem Bild, das die Sternzeichen am Firmament mit einem vorbeifliegenden Raumschiff zeigt. Auf dem Holzfußboden stehen unter anderem eine leere Vase und eine kleine Stehlampe. Das Paar in der rechten Bildhälfte – beide in bunte Kimo- S. 40–45 S. 46 2 Ebd., S. 10. 3 Westermann 1992, S. 43. 4 Zwei Werke von Marsden Hartley, die sich im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) befanden, haben Moritz Götze nachhaltig beeindruckt. 5 Vgl. Rothamel 2014, S. 7 f. 6 Vgl. ebd., S. 12.​

125 nos gekleidet – unterhält sich über das, was sich auf der roten Bettmatratze auf der linken Bildhälfte befindet. In der Sprechblase des Mannes steht: »What is in my bed?«, während die Frau (die Gritas Frisur aus der Serie Grita I – III trägt) mit »bssst« antwortet. Tatsächlich erstreckt sich auf der Matratze eine riesige Rakete. Als Betrachter kann man nun beispielsweise Mutmaßungen anstellen, was eine Rakete in diesem Kontext bedeuten mag. Das Augenmerk des Künstlers liegt aber eindeutig auf der Exotik und Aura des Westens, die durch das Einbringen von Bildstücken von dort auflebt. Erstmals überhaupt hat Götze fremde Details in einer Arbeit verwendet: Das Space Shuttle war ein Transparentpapier aus der Werbung von Zanders in einer westdeutschen Architektur- und Designzeitung. What is in my bed? hat aber auch deshalb einen so großen Stellwert im Werk Götzes, da die Serigrafie ein Türöffner für ihn war. Die Fotografin Eva Mahn entdeckte das Blatt im Haus seiner Eltern und erwarb es. Auf diesem Weg stießen Ausstellungsmacher Peter Lang und der spätere Sammlungsleiter im Kunstmuseum Moritzburg Theo O. Immisch auf die Grafik. Was daraufhin folgte, war 1987 eine Ausstellung in der bekannten Gosenschenke in Halle (Saale), dem Jugendclub der Kunsthochschule Burg Giebichenstein, und in der Galerie Schaufenster in Berlin. Der Artikel in der Zeitschrift Bildende Kunst. Zeitschrift für Malerei, Plastik, Grafik, Kunsthandwerk und Industrieformgestaltung etablierte ihn schließlich als ernstzunehmenden Künstler. Bis 1988 hat Moritz Götze seinen bildnerischen Kanon gefunden:6 Figurative Darstellungen bleiben schematisch, die Farbpalette reduziert sich im Wesentlichen auf die Primärfarben, anatomische und perspektivische Korrektheit sind nicht werkimmanent, die Linienführung ist routiniert, das Bildpersonal stereotypisch – Helden sind oft kahlköpfig und flachschädlig, wohingegen die Frauen meist ätherisch schön und blond sind. Auch eine rätselhaft bildliche Erzählweise gehört zu Götzes Handschrift. Gerade letztere zeichnet sich schon in früheren Werken wie Die letzte Prinzessin aus dem Jahr 1987 [ Abb. 3 ] oder Napoleon war nie in Moskau aus demselben Jahr ab. [ 3 ] Moritz Götze Die letzte Prinzessin 1987 S. 48–49

[ 54 ] 20 BLÄTTER ZU PREUSSEN, ZYKLUS MIT 21 FARBGRAFIKEN | 2009

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[ 55 ] SCHADOW (WEISS) NACH DEM STICH VON JULIUS GOTTHEIL | 2018 Wiederholt hat sich Moritz Götze mit den Werken deutscher klassizistischer Künstler auseinandergesetzt. Götze greift in der Serigrafie das zentrale Motive seines Emaille-Bilderbogens zu Johann Gottfried Schadow (1764–1850) auf; Motive aus Schadows Leben und Schaffen umkreisen dabei die Zentralfigur. 2018 hatte Götze die Ausstellung Lorbeeren für Schadow im Schadow-Haus des Bundestags eröffnet.

137 [ 56 ] SCHADOW, UNTER VERWENDUNG EINER ORIGINALDRUCKPLATTE VON SCHADOW (GELB) | 2020

Moritz Götze passt künstlerisch in keine Schublade. Der zeitgenössische deutsche Maler, Grafiker und Objektkünstler verwebt Einflüsse aus Pop-Art, Comic und der Vergangenheit zu einem unvergleichlich originellen Werk. Seine Handschrift ist insbesondere in seinen grafischen Arbeiten unverkennbar. Inhaltlich verarbeitet der Hallenser Künstler Kulturgeschichtliches und Kunsthistorisches mit besonderem Interesse an ostdeutscher Gesellschaftsgeschichte. Dabei lässt er Alltagsgegenstände und Erlebnisse aus seinem Leben in seine Bildsprache einfließen. Rastlos trägt der leidenschaftliche Sammler und talentierte Tausendsassa Moritz Götze neue Ideen, Visionen und Gegenstände zusammen, die der von Inspiration und dem Willen zur bildenden Kunst Getriebene in seinen Werken bildnerisch umsetzt. MORITZ GOTZE

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