Leseprobe

76 spiegelverkehrt. In der Betonung dieses Vorgangs wird sozusagen noch einmal nachdrücklich auf die Herleitung von einem Urbild hingewiesen. Der direkte Vergleich legt dann allerdings die Umarbeitung offen, wobei einige der für Götzes Bildkosmos charakteristischen Mittel verwendet werden. Den Hintergrund bildet jetzt das strenge, wenn auch unregelmäßige Raster aus vertikalen, horizontalen und diagonalen Linien, das in Götzes Druckgrafik immer wieder zum Einsatz kommt. Vor allem aber wird eine Art von Brüstung vor das Porträt gesetzt, auf der eine einzelne Tulpe liegt, auch diese ein oft eingesetztes Requisit aus dem eigenen Motivfundus. Das mag auf die seit dem Mittelalter übliche Blumensymbolik anspielen, mit der vor allem Mariendarstellungen um eine zusätzliche Symbolebene erweitert wurden, aber auch eine Funktion innerhalb des eigenen ikonografischen Systems haben. Im Zentrum des Interesses aber steht das Gesicht; im Original hat es, ebenso wie in der Übertragung in das charakteristische Götze-Gesichtsschema, die gleiche undurchdringliche Verschlossenheit und Magie. Es mag sich bei der kleinen Radierung um eine Reverenz gegenüber dem darstellerischen Vermögen des Petrus Christus handeln oder um ein Überprüfen der eigenen gestalterischen Sprache an einem sogenannten Alten Meister gehen – die Hommage an in der Kunstgeschichte vorgefundene Bildschöpfungen spielt auf jeden Fall eine große Rolle. Ähnlich verhält es sich wohl mit dem 2008 entstandenen Siebdruck Pan tröstet Psyche. Hier steht die von Reinhold Begas im Jahr 1878 geschaffene Marmorgruppe in der Alten Nationalgalerie Berlin im Mittelpunkt eines Stilllebens von Skizzen und alltäglichen Utensilien auf dem Arbeitstisch des Künstlers. Die im Original kompakte und gleichzeitig raumbildende Skulptur wird dabei ohne verändernde Eingriffe abgebildet. Lediglich die festumrissene Betonung des Umrisses und die schablonierende Übertragung in die Fläche ordnet dieses Bildzitat in die Handschrift von Moritz Götze ein. Von tiefer Wertschätzung zeugt auch der in mehreren farblichen Varianten durchgespielte Siebdruck Morgenröte [Abb. 4–7], mit dem Götze sich vor gleich zwei Künstlerpersönlichkeiten verneigt, vor Georg Friedrich Kersting (1785–1847) und vor Caspar David Friedrich (1774–1840) [Abb. 3]. Die 1810 entstandene aquarellierte Bleistiftzeichnung Morgenröte im Besitz des Kupferstichkabinetts in Berlin zeigt Friedrich als Rückenfigur mit über der Schulter getragener Zeichentasche, den Blick in die Weite gerichtet, als Wanderer auf dem Weg ins Riesengebirge. Götze setzt sie entweder in einen vollkommen abstrakten Hintergrund oder er umgibt sie mit einer ungebrochen leuchtenden Fläche aus [ 3 ] Moritz Götze Unterwegs, 2023 S. 148

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