13 Der jugendliche Held wird 60. Von der Mickey Mouse zum vitaminhaltigen Sauerkraut in der Blechbüchse. Mit rund 60 ausgewählten Blättern möchten Ausstellung und Katalog die Lebensjahre des Künstlers nacherzählen. Das ist bei Weitem nicht der erste biografische Versuch. Götzes Publikations- und Ausstellungsliste ist lang. In der Selbstvermarktung ist er vorbildlich, alle machen mit. Und er ist gern zur Zusammenarbeit bereit. Er hebt alles auf. Götze folgt dem Lebensmotto von Walter Kempowski (1927–2007): »Ich will Archiv werden.«1 Auf Anhieb findet er jedes relevante Blatt und jede Fotografie, ist immer auskunftsfreudig und hat ein gutes Gedächtnis. Das haben wenige drauf. Bei Künstlern kann man sich selten auf die Bilder verlassen, viele verstecken sich gern hinter Nebelbänken der Imagination. Götzes Werk ist selbstreferenziell und erstaunlich ehrlich. Das ist auch ein Grund, warum die Bilder so gut funktionieren. Schon weil Götze von Anfang an zur Sache kommt [Abb.1]. Was er auf das Blatt bringt, ist allgemeinverständlich. Gleichzeitig schaut das Publikum in eine autofiktionale Traumwelt. Er kommt dem Betrachter weit entgegen. Das geht gleich ins Hirn, barrierefrei. Pop-Art ist vom Prinzip her barrierefrei. Götze ist ein beobachtender Leser und Sammler. Ein Bilderfresser, jede Bildgeschichte wird aus- und aufgesaugt, von den Höhlenmalern, Ägypten und Pompeji, gotischer Buchmalerei, den Bildwerkstätten der Renaissance, dem Romantiker Caspar David Friedrich (oder wer auch immer gerade einen runden Geburtstag hat, Tote kommen nicht bei drei auf die Bäume), über die Historienmaler des 19. Jahrhunderts bis zu Tim und Struppi und Lucky Luke, der schneller als sein Schatten schießt und weiter zu der PopArt von Warhol und Rauschenberg; und das ist längst nicht alles. Jedes Heimatmuseum und jede Dorfkirche am Wegesrand wird besucht, Schlachtfelder und Landschaftsparks, der Père Lachaise und der 1 Das Zitat entstammt einer Familienanekdote: Vater (Karl-Georg Kempowski) und Sohn (Walter Kempowski, ca. zehn Jahre alt) gehen spazieren und treffen einen Schulfreund des Vaters (Reeder Cordes), dieser fragt schließlich, um das Kind einzubeziehen: »Na, was willst Du den mal werden?«, und das Kind Walter antwortet: »Ich möchte Archiv werden.« Auskunft über Dr. Katrin Möller-Funck, Kempowski-Archiv- Rostock Ein bürgerliches Haus e.V. Wiener Zentralfriedhof und die Gruftkapelle der Schlosskirche St. Aegidien in Bernburg. Seine Kinder weigerten sich irgendwann, mit ihm zu verreisen, wenn er nicht versprach, das Bildungsprogramm auf höchstens nur eine Sehenswürdigkeit pro Tag zu reduzieren. Und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen. In seinem Atelier brennt immer Licht. Man kann es mit der Angst bekommen. Nacht für Nacht. Der Mann steht im permanenten Austausch mit der Welt. Das Rätsel: Was sieht der Künstler, wie funktioniert das Gedächtnis eines Bilderfressers, wie wird das abgespeichert, und warum ist das alles so präsent? Er kollagiert alles und jeden und vor allem sich selbst in die Bildmitte, er ist der Matrose, Steuermann, Fackelträger, 007, Dichterfürst, Gardeleutnant, Forschungsreisende, Astronaut, der kleine Prinz, Adam, Zirkusartist, der Mann über dem Nebelmeer. Und das freundlich ohne Publikumsbelehrung. Da steht zwar immer der Akteur in der Mitte und weist entschlossen in eine Richtung, aber ob in der Richtung des ausgestreckten Zeigefingers Problemlösungen lauern, ist sehr fraglich, vor allem, weil der vom Helden anvisierte Ereignishorizont weit außerhalb des Bildrands der Grafik liegt. Moritz Götze Fotografisches Selbstporträt 1983 [ 1 ]
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