Studia Jagellonica Lipsiensia HEIDRUN STEIN-KECKS, BENNO BAUMBAUER, CHRISTIAN FORSTER UND WILFRIED FRANZEN (HG.) Grenzüberschreitungen Spätmittelalterliches Kunstschaffen in West-Ost-Mittel-Europa Festschrift für Markus Hörsch 24
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24 Grenzüberschreitungen Spätmittelalterliches Kunstschaffen in West-Ost-Mittel-Europa Festschrift für Markus Hörsch HEIDRUN STEIN-KECKS, BENNO BAUMBAUER, CHRISTIAN FORSTER UND WILFRIED FRANZEN (HG.) SANDSTEIN
Inhalt 8 Vorwort Richard Wientzek 11 »Mulholland Drive« Markus Hörsch 12 Nachruf Franz Machilek (1934–2021) Königtum und Kirche, Adel und städtische Eliten Jiří Fajt 16 Der Merseburger Bischof Friedrich von Hoym und die Faszination durch die kaiserliche Majestät Benno Baumbauer 36 Erinnerungsorte des Reiches Stiftungen Kaiser Friedrichs III. anlässlich der Königskrönung Maximilians I. in Nürnberg und Aachen Christian Forster 68 Die Laienbestattung in St. Peter zu Erfurt und die Tumbenplatte der Grafen von Gleichen Theo Schley 90 »Abtretung an einen Mächtigeren« Die Prager Bürger, die Teynkirche und König Johann von Luxemburg Zisterzienser Gerhard Weilandt 106 Herrscherliche Repräsentation in der Architektur des Klosters Chorin? Kritische Überlegungen zur Funktion der Westanlage Markus Leo Mock 124 Können wir das glauben? Zwei Quellen über Inschriften im Chorscheitelfenster der Zisterzienserklosterkirche Schulpforte
Baukunst und Bildkunst Lothar Schultes 138 Der Znaimer Altar – ein Hauptwerk des frühen Realismus Tomasz Torbus 158 Meister Michael Enkinger alias Carpentarius Indizienforschung zur Person eines spätgotischen Architekten Heidrun Stein-Kecks 168 Spätgotische Wandmalereien im salzburgisch-bayerischen Grenzgebiet: St. Philippus und Jakobus in Abtsdorf Mit einem Exkurs zur digitalen Erfassung von Wandmalerei in der virtuellen Forschungsumgebung WissKI Jan Dienstbier 194 Wie sich Weltliches und Geistliches mischten Die Trinkstube in der Burg Kanitz (Dolní Kounice) und die spätmittelalterliche profane Wandmalerei in mitteleuropäischen Klöstern, Pfarrhöfen und Burgen Grenzüberschreitungen Stephan Albrecht 212 Frankreich und der »Rest der Welt« Spätgotische Figurenportale im internationalen Zusammenhang Stefan Roller 224 Von Nord nach Süd, von West nach Ost Der Frankfurter Rimini-Altar und verwandte Alabasterwerke in Europa Zoltán Gyalókay 242 Grenzüberschreitungen zwischen den Königreichen Polen und Ungarn Jakob von Sandez und der Hochaltar der Ägidiuskirche zu Bartfeld (Bardejov) Wilfried Franzen 250 Von allen Sinnen Über eine Zeichnung des Danziger Künstlers Anton Möller d. Ä. aus dem frühen 17. Jahrhundert
Kritische Beiträge zur Kunstgeschichte Tobias Frese 258 »Mystischer Schlummer« Überlegungen zur Schlafsymbolik der Christus-Johannes-Gruppe Gábor Endrődi 266 Autorität und Ironie in der Pronosticatio von Johannes Lichtenberger Wolfgang Brückle 280 Altertümer werden Kunstgeschichte Über Johann Gustav Gottlieb Büschings Breslauer Museumsgründungen und seine Erforschung der mittelalterlichen Kunst in Schlesien Simone Hespers 302 Jens Harders Comics zur Evolutions- und Zivilisationsgeschichte Grenzüberschreitungen zwischen Realität, Fiktion und Mythologie Anhang 317 Publikationen Markus Hörsch 326 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 328 Ortsregister 332 Personenregister
Erinnerungsorte des Reiches Stiftungen Kaiser Friedrichs III. anlässlich der Königskrönung Maximilians I. in Nürnberg und Aachen BENNO BAUMBAUER
Friedrich III. (geb. 1415, 1440 König, 1452 Kaiser, gest. 1493) ist erklärtermaßen Markus Hörschs zweiter Lieblingskaiser.1 In mehreren Texten beschäftigte er sich mit dem kunstsinnigen Habsburger, wobei er wiederholt Bezüge zur Nürnberger Kunst herstellte: So konnte er 1994 nachweisen, dass die eigenwilligen Malereien des Allerheiligenretabels aus Kleinschwarzenlohe bei Nürnberg künstlerisch eng mit den Miniaturen eines Gebetbuchs zusammenhängen, das der in Regensburg und Wien tätige Buchmaler Martinus Opifex 1447/48 für den König illuminierte.2 2016 befasste er sich in einem Aufsatz mit den Funktionen, der Ausstattung und Architektur der Wiener Neustädter Burgkirche St. Georg.3 Wieder führte eine entscheidende Spur nach Nürnberg, denn Hörsch stellte die These auf, der Grundriss dieser Kirche basiere auf einem Zitat der staufischen Doppelkapelle der dortigen Reichsburg. Friedrich III. als Bauherr habe den Typus der quadratischen Halle mit drei mal drei Jochen über vier Rundstützen ohne Vorlagen aus Nürnberg übernehmen und dabei gleichsam verdoppeln lassen, um ihn so dem querrechteckigen Grundriss der Wiener Neustädter Burgkirche anzupassen: Das westliche der Quadrate (eigentlich zwei etwas schmalere Rechtecke) bildete das Langhaus, das östliche, etwas reicher gegliederte den Chor.4 Als Vorbild für eine solche kaiserliche Adaption der Nürnberger Burgkapelle versteht Hörsch die Frauenkirche Kaiser Karls IV. am Hauptmarkt in Nürnberg, die in analoger Weise »diese Architekturform in die gotische Formenwelt transponiert hatte«.5 Hörsch erklärt dies aus »Friedrichs III. fast schon verbissene[m] Bedürfnis, seine Legitimation zu sichern«, und hält es für »eigentlich selbstverständlich, dass er für seine Burgkirche auf Bauformen zurückgriff, die ihn über Karl IV. letztlich mit den Staufer-Kaisern verbanden«.6 Dass sich der Habsburger des ideologischen Potenzials der Nürnberger Burgkapelle als Kaisermonument tatsächlich vollkommen bewusst war und dieses für seine Selbstdarstellung nutzte, belegt die Stiftung eines Retabels auf dem nördlichen Seitenaltar der Oberkapelle im Jahr 1487, knapp drei Jahrzehnte nach Weihe der Wiener Neustädter Burgkirche (Abb. 1–9). Durch die Markierung dieses bedeutenden Erinnerungsortes des Reiches mit einem solchen Denkmal und dessen dezidiert kaiserliches Bildprogramm inszenierte Friedrich sich und seine Dynastie als rechtmäßige Inhaber der Reichskrone. Damit steht das Retabel im Kontext einer Strategie, die Friedrich anlässlich der Königskrönung seines Sohnes Maximilian I. vergleichbar auch in einem Wandmalereizyklus in der Chorhalle des Aachener Münsters verfolgte, der im zweiten Teil dieses Aufsatzes behandelt wird (Abb. 22–25). Aufbau des Nürnberger Retabels Während Gehäuse und Flügel des Retabels 1945 auf der mittelfränkischen Cadolzburg verbrannten, überlebten die Schreinskulpturen den Krieg im sogenannten Kunstbunker im Nürnberger Burgberg und werden heute wieder in der Burgkapelle präsentiert (Abb. 1–2).7 2013 publizierte Johannes Erichsen eine Gesamtansicht des Denkmals vor seiner Zerstörung von Ferdinand Schmidt, auf der allerdings kaum Details ablesbar sind.8 Doch finden sich im Denkmalarchiv Dr. Nagel in der Grafischen Sammlung der Stadt Nürnberg detailreiche Schwarz-Weiß-Fotografien der meisten Gemälde des Retabels, die um eine weitere Aufnahme aus dem Nürnberger Stadtarchiv ergänzt werden konnten.9 Einige davon haben wir im Katalog der Nürnberger Ausstellung zu Michael Wolgemut 2019 abgedruckt,10 weitere Christian Forster in seinem grundlegenden Aufsatz zur Nürnberger Burgkapelle im selben Jahr in den Studia Jagellonica (Abb. 1–9).11 Die hohe Qualität der Fotografien ermöglicht es, sich ein detailliertes Bild von der verbrannten Altartafel zu machen. Das Retabel besaß vier Schreinskulpturen,12 Abb. 1 Werkstatt Michael Wolgemuts/Nürnberger Bildschnitzer (Umfeld oder Werkstatt Sixtus Freis?), Retabel Kaiser Friedrichs III., 1487, ehemals Nürnberg, Oberkapelle der Kaiserburg (Foto: Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg, Grafische Sammlung).
q 38 Benno Baumbauer gung der Marienkrönung und der Verkündigung vorgeschlagen habe, sodass die Verkündigung eine Steigerung in der Marienkrönung, die Geburt in der Auferstehung erfahren hätte. Dies würde ich heute anders beurteilen, denn die jeweils zu einem Flügel gehörigen Szenen trennte nur ein rein gemalter Rahmen. Jeder Flügel dürfte demnach aus nur einer Bildtafel bestanden haben und man wird sich mit der Anordnung der Szenen auf der Fotografie anfreunden müssen. Auf den Flügelaußenseiten und den Standflügeln erschienen in je zwei Registern acht Paare von Heiligen, die vor schlichten Brüstungsmauern auf Rasenstücken standen (Abb. 7 a – d). Je drei weitere Heilige waren als Brustbilder auf Außen- und Innenseiten der Predellenein bewegliches Flügelpaar und Standflügel (Abb. 1). Das Zentrum des Schreins nahm das Kaiserpaar Heinrich und Kunigunde ein, begleitet von Karl dem Großen heraldisch rechts und der Heiligen Helena heraldisch links (Abb. 2 a – d). Die gemalten Innenseiten der verbrannten Flügel zeigten vier der Freuden Mariens vor kombinierten Landschafts- und Goldgründen mit gravierten Brokatmustern, wobei die Anordnung der Szenen auf der Nagelschen Fotografie etwas irritiert: Auf dem linken Flügel ist oben die Marienkrönung, unten die Geburt Christi dargestellt, auf dem rechten oben die Verkündigung, unten die Auferstehung (Abb. 1, 3–6). Dies erscheint weder chronologisch noch inhaltlich sinnvoll, weshalb ich 2019 eine Rekonstruktion mit vertauschter Anbrina Abb. 2a–d Nürnberger Bildschnitzer (Umfeld oder Werkstatt Sixtus Freis?), Schreinskulpturen aus dem Retabel Kaiser Friedrichs III., 1487, Nürnberg, Oberkapelle der Kaiserburg. a) Karl der Große; b) Heinrich II.; c) Kunigunde; d) Helena (Fotos: © Bayerische Schlösserverwaltung/Rainer Herrmann, München). b
Erinnerungsorte des Reiches 39 q Zuschreibung an die Werkstatt Michael Wolgemuts Das Retabel scheint kaum zu dem feinsinnigen Gespür für künstlerische Qualität zu passen, das nicht unwesentlich zu der zunehmenden Wertschätzung Friedrichs III. in der Forschung beiträgt. Bereits Hermann Fillitz konstatierte in seinem Aufsatz über Friedrich als Mäzen der Künste im Wiener Neustädter Ausstellungskatalog von 1966: »Jedenfalls ergibt das Wenige, das als sicherer Auftrag Friedrichs erhalten ist, das Bild eines Fürsten, der einen subtilen Geschmack besaß und für seine Zwecke mit sicherem Auge jene Künstler wählte, deren künstlerische Aussage über Jahrhunderte flügel dargestellt, von denen der linke zweimal faltbar war (Abb. 1, 8, 9). Der etwas hypertroph erscheinende Habsburger-Schild in der Bekrönung des Schreins dürfte, genauso wie das gesamte Gesprenge, auf eine für vor 1830 bezeugte, aber nicht näher beschriebene Restaurierung zurückgehen (Abb. 1).13 Dafür sprechen die Einzelformen, wie die auffallend großen, kohlblattförmigen Krabben und das im Vergleich dazu zerbrechlich wirkende Maßwerkgestänge. Die wappenhaltenden Engel dürften hingegen in Zweitverwendung zum Einsatz gekommen sein.14 c d
q 40 Benno Baumbauer Abb. 3–6 Werkstatt Michael Wolgemuts, Retabel Kaiser Friedrichs III., 1487, ehemals Nürnberg, Oberkapelle der Kaiserburg. 3) Marienkrönung; 4) Geburt Christi; 5) Verkündigung; 6) Auferstehung. 3 4 5 6
Erinnerungsorte des Reiches 41 q Abb. 7 a – d Heiligenpaare von den Flügelaußenseiten. a) Johannes Evangelista und Johannes Baptista; b) zwei Apostel (Simon und Judas?); c) Georg und Michael; d) Martin und Leopold (Fotos: Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg, Grafische Sammlung). a b c d
Die Laienbestattung in St. Peter zu Erfurt und die Tumbenplatte der Grafen von Gleichen CHRISTIAN FORSTER
Laien im Kloster Die Klosterkirche der heiligen Apostel Peter und Paul auf dem Petersberg in Erfurt war in der Zeit ihrer regulären Nutzung als Sakralbau, das heißt zwischen der Weihe des Neubaus 1147 und der Aufhebung des Klosters 1803, nicht allein den Benediktinermönchen des Konvents vorbehalten, sondern auch Laien zugänglich. Der Besuch der Kirche durch Laien war erwünscht, brachte er dem Kloster in der Regel doch Geld ein. Zudem verpflichtete die Benediktsregel (Kap. 53) den Konvent, Arme und Pilger aufzunehmen. Ebenso wie die Klosteranlage besaß auch die Kirche Bereiche, in denen die Mönche unter sich blieben, und solche, die von Außenstehenden betreten werden durften. Die Gruppe der Laien, die sich für kurze oder längere Zeit innerhalb der Klostermauern aufhielten, war so heterogen wie die Beziehungen, die das Kloster zur Außenwelt hatte, vielfältig waren. Zu den Leuten niederen Standes gehörten die Bediensteten und Versorger des Konvents. Regelmäßig wurden die Mönche von ihren Verwandten besucht, die der Bürgerschaft Erfurts und anderer Städte sowie dem Niederadel Thüringens angehörten. Zu den Gästen hohen Standes zählte der Vogt aus dem Grafengeschlecht von Gleichen, der ein ständiges Herbergsrecht im Kloster genoss und (bis 1373) einen eigenen Hof auf dem Petersberg besaß.1 Mit Rudolf von Habsburg bewohnte 1289/90 ein römischdeutscher König das Peterskloster für die Dauer von knapp elf Monaten. Zu Weihnachten 1289 lud er zu einem Reichstag im Kloster ein.2 Nicht in die Betrachtung einbezogen werden hier die Konversen, eine Sondergruppe der Laien, die als Erwachsene in Klöster Hirsauer Observanz wie St. Peter und Paul zu Erfurt eintreten durften und je nach Stand und Bildungsgrad Chordienst oder niedere Arbeiten versahen.3 1148 verlieh der Mainzer Erzbischof dem Abt des Erfurter Klosters Pfarrrechte, wie das Recht Kinder zu taufen, Kranke zu besuchen sowie Tote zu beerdigen, und er gestattete den Brüdern, die Praxis des sonntäglichen Kreuzumzugs um die Kirche beizubehalten.4 1227 verbot Papst Gregor IX., dass Kapellen und Oratorien innerhalb der Grenzen der klösterlichen Pfarrei ohne Zustimmung des Diözesanbischofs und des Konvents erbaut würden.5 Wo die Grenzen verliefen, wird dabei nicht gesagt. Seit 1185 bestand am südöstlichen Rand des Petersbergplateaus die Pfarrkirche St. Leonhard.6 Sie teilte sich die Versorgung der Pfarrkinder, zu denen neben den nichtmonastischen Einwohnern des Klosterbezirks auch die Bewohner der Häuser auf dem Petersberg und an dessen Hang zählten, mit einer Parochie St. Petri, die 1366 in den Zinsregistern des Klosters erscheint.7 Als deren Pfarraltar diente der Kreuzaltar, der nach der einleuchtenden Rekonstruktion von Tim Erthel ab etwa 1220 im mittleren Joch eines dreiteiligen Hallenlettners stand.8 Der Lettner grenzte den Laienbereich des Langhauses bis zu seinem Abriss 1701 gegen den im Osten anschließenden Chorus minor ab (Abb. 1). Abb. 1 St. Peter und Paul zu Erfurt, Grundriss aus Becker 1929.
q 70 Christian Forster Die Bestattung von Laien in der Klosterkirche Nur eine ausgewählte Gruppe von Laien konnte sich im Inneren der Klosterkirche ein Grab bereiten lassen. Zwischen ihnen und den Leuten, die das Kirchengebäude regelmäßig oder hin und wieder aufsuchten, dürfte es allenfalls mit den Verwandten der Mönche eine Schnittmenge gegeben haben, kaum jedoch mit den Bewohnern des Pfarrsprengels. Deren Begräbnisplatz war zunächst und vor allem der Friedhof, der im Süden und im Osten der Klosterkirche lag. Dass der Lettner auch für Laienbestattungen innerhalb der Klosterkirche eine Grenze war, die nur selten überwunden wurde, kann mithilfe einer Inschriftensammlung aus der Zeit vor der Auflösung des Klosters aufgezeigt werden. Dabei wird sich herausstellen, dass es – auch in einem Männerkloster – bezüglich des Begräbnisorts keine Unterschiede für Männer und Frauen gab. Als zeitliche Grenze wird das Jahr 1450 gewählt, weil über die anschließende Epoche, in der sich mit der Einführung der Bursfelder Reform im Peterskloster auch die liturgische Praxis des Totengedenkens änderte, eine umfassende Studie von Barbara Frank vorliegt.9 Gallus Stassen, einer der letzten Bibliothekare des Petersklosters (gest. 1780), nahm 1759 und erneut 1777 alle epigrafischen Zeugnisse auf, die er in der Hauptkirche und in der Annenkapelle vorfand, überwiegend Grabplatten und Epitaphien. Er begann mit der willkürlichen Auswahl einiger Grabplatten in der Annenkapelle und ging schließlich systematisch vor, indem er die Klosterkirche von West nach Ost nach Inschriften absuchte.10 Nur wenige dürften ihm entgangen sein.11 Knapp 180 Grabstellen von Individuen, Geschwistern, Ehepaaren und Familien in und außerhalb der Klosterkirche sind durch Stassen überliefert.12 Ohne seine Dokumentation wäre die reiche Bestattungstradition des Klosters nahezu unsichtbar geblieben, denn die Grabsteine wurden 1816–1819 aus der profanierten Klosterkirche fortgeschafft und zum Umbau der Schleuse bei den Schutztürmen im Gera-Flutgraben verwendet.13 Das einzige mittelalterliche Grabdenkmal, das erhalten blieb, ist die figürlich ausgestattete Tumbenplatte von der Grablege der Grafen von Gleichen, der der Hauptteil der folgenden Betrachtung gewidmet ist. Gallus Stassen begann seine Inschriftensammlung im »Paradies«. Ein Rest der romanischen, ursprünglich dreischiffigen Vorkirche existierte auch noch nach dem Bau der neuen Abtei, die 1693/94 vor der Westfront der Kirche errichtet worden war, als Halle in dessen Erdgeschoss fort (Abb. 2, 3).14 1777 waren in diesem Bereich noch neun Bestattungen festzustellen, die alle in die Abb. 3 Klosterkirche von Westen, Zustand 2018 (Foto: Christian Forster). Abb. 2 Grundriss des Petersklosters, Erdgeschoss und Obergeschoss, Bauaufnahme des Bauinspektors Schmidt von 1805, Stadtarchiv Erfurt, 6-0/01-I P2a Nr. 3384.
Die Laienbestattung in St. Peter zu Erfurt und die Tumbenplatte der Grafen von Gleichen 71 q Zeit vor 1450 zurückreichen, darunter mindestens vier weibliche.15 Einige davon wurden 2019 bei archäologischen Grabungen vor der Westfassade des erhaltenen Kirchenfragments erfasst.16 Wie im Paradies, so stammten mit Ausnahme der Grabplatte der Grafen von Gleichen auch im Langhaus die ältesten Grabsteine, die an verstorbene Laien erinnerten, aus dem frühen 14. Jahrhundert. Bis 1450 ließen sich, Stassens Sammlung zufolge, mindestens 56 Laien im Langhaus der Peterskirche bestatten, die Angehörigen des Hauses Gleichen nicht mitgezählt, darunter 22 Frauen.17 Einige Bestattungen stehen im Zusammenhang mit Altarstiftungen (Abb. 4). Die Namen des von Gleichen’schen Burgmanns Berenger von Meldingen und des Erfurter Patrizierpaars Heinrich und Christiana von Zimmern, die 1351 jeweils einen Altar an den westlichsten Pfeilern des Mittelschiffs ausstatteten, sind in Stassens Grabsteinliste nicht vertreten.18 Der Grabstein des Hartung Vitztum aber, aus dessen Spenden im gleichen Jahr 1351 der Dreikönigsaltar errichtet werden konnte, ist im Langhaus bezeugt und lag wahrscheinlich in der Nähe dieses Altars, der am sechsten Langhauspfeiler der Nordarkade lokalisiert wird.19 Bald darauf stiftete Heinrich von Wechmar für sein und seiner Eltern Seelenheil den Matthias-Altar, der 1366 geweiht wurde. Er stand am 2. westlichen Langhauspfeiler, unter der Nordarkade.20 Sein Stifter war bereits 1353 verstorben und im Langhaus, wahrscheinlich ebenfalls in der Nähe des Altars, beigesetzt.21 1406 dotierte mit Heinrich Brun ein weiterer Erfurter Ratsherr einen Altar. Brun ließ im Langhaus den Heilig-Geist-und-Bonifatius-Altar aufstellen und legte fest, dass daran täglich eine Seelmesse für seine Frau, für ihn selbst und seinen Sohn zu lesen sei.22 Dieser Altar stand am 2. Pfeiler von Westen auf der Südseite, wie eine heute noch erhaltene Inschrift auf der gegenüberliegenden (östlichen) Seite des ersten Pfeilers mitteilt.23 Heinrich Brun (gest. 1425) und seine Frau Elisabeth (gest. 1433) wurden davor bestattet.24 Im südlichen Querhaus, das bei Stassen wegen der Aufstellung des Benediktsaltars 1678 anstelle des Stephansaltars in der südlichen Querhauskonche Chorum s. Benedicti genannt wurde,25 setzte die Laienbestattung – soweit aus den überlieferten Grabplatten abzulesen – 1325 ein. Bis 1450 zählt man hier zehn Laien, davon vier Frauen.26 Im Chorus minor, in der Vierung und im nördlichen Querhausarm sind keine Grabplatten nachgewiesen. Das Presbyterium war stets den Äbten des Klosters vorbehalten, nur in die Nebenchöre konnten die Laien vordringen. Einen Präzedenzfall schuf hier offenbar ein Johannes de Gotha Institor (gest. 1347), doch ist der Grund für seine Bevorzugung nicht bekannt.27 Neben dem Langhaus entwickelte sich die Marien- oder Annenkapelle seit dem frühen 14. Jahrhundert zum Hauptort für Laiengräber. Bemerkenswert daran ist, dass sich diese Kapelle, die in östlicher Verlängerung des Kapitelsaals lag, nach ihrer Neuweihe 1290 auch zur zentralen Grablege der Äbte entwickelte.28 Doch da sie über den Friedhof zugänglich war, der wiederum durch ein Tor in der Mauer von Süden her erreicht werden konnte, gelangten die Laien in die Kapelle, ohne die Kirche zu durchqueren und die Klausur zu stören.29 Durch einen Ablass des Mainzer Erzbischofs Peter von Aspelt von 1318 wurden sie nachgerade dazu aufgefordert, die Abb. 4 Altarplan der Klosterkirche St. Peter und Paul, Rekonstruktion für das 15. Jahrhundert aus Frank 1973.
q 72 Christian Forster Abb. 5 Tumbenplatte von der Grabanlage der Grafen von Gleichen, seit 1813 im Dom zu Erfurt (Foto: Christian Forster).
Die Laienbestattung in St. Peter zu Erfurt und die Tumbenplatte der Grafen von Gleichen 73 q Kapelle zu besuchen und die Messe zu hören.30 1405 sah sich der Mainzer Erzbischof allerdings genötigt, der Laienschaft die Grenzen des öffentlichen Raums aufzuzeigen. Es ist anzunehmen, dass sich sein Verbot an Frauen, Kreuzgang und Klausur bei Strafe der Exkommunikation zu betreten, an die Besucherinnen der Annen-/Marienkapelle richtete.31 Zwischen 1324 und 1450 fanden in der Kapelle 18 Laien, darunter sieben Frauen, ihr Grab.32 Die Tumbenplatte mit Liege- figuren eines Grafen von Gleichen und zweier Frauen Am Anfang der Laienbestattung in der Klosterkirche standen die Grafen von Gleichen, die spätestens seit 1134 die Schutzvogtei des Klosters innehatten.33 Im Langhaus auf der Mittelachse, etwa eine Arkadenweite in westlicher Richtung vom Kreuzaltar entfernt, richteten sie eine dynastische Grablege ein, die seit etwa der Mitte des 13. Jahrhunderts oberirdisch durch eine Tumba gekennzeichnet war.34 Auf der Tumba lag die heute im Dom vor einer Wand aufgestellte Grabplatte, die einen unbekannten Graf von Gleichen zwischen zwei Frauen zeigt (Abb. 5). Die Stelle westlich des Kreuzaltars stellte sicher, dass das Grabmal von den Mitgliedern der Pfarrgemeinde ebenso wie von Pilgern und Gästen aufgesucht werden konnte, ohne die Stundengebete des Konvents zu stören. Ein Barbara-Altar, auf den Tumba und Grablege Bezug nahmen, wurde erst Jahrzehnte später eingerichtet und 1348 geweiht.35 Die früheste Erwähnung des Grabmals fällt in die 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts.36 Die 1813 in den Dom überführte Tumbenplatte (260 × 186 × 21,5 cm + 7,5 cm erhabenes Relief) ist ohne jede Inschrift erhalten, daher können die Individuen, die im Hochrelief dargestellt sind, nicht eindeutig bestimmt werden. Außer Zweifel steht nur, dass das Wappen auf dem Schild, das der männliche Adelige wie nebenbei vorweist, einem Angehörigen des Grafengeschlechts von Gleichen gehörte. Wappenfigur ist ein bekrönter gelöwter Leopard in Gold vor Blau (Abb. 6).37 Eine Identifizierung der historischen Personen, die in der Peterskirche durch ein figürliches Grabdenkmal repräsentiert wurden, muss die zeitgenössischen heraldischen Konventionen berücksichtigen. Meines Erachtens lässt sich auf dieser Grundlage ein neuer Vorschlag begründen. Beschreibung, Naumburg- Rezeption und Datierung Die überlebensgroßen Figuren stehen nebeneinander auf Konsolen, wobei die beiden Frauen ihr Haupt leicht dem Mann in der Mitte zuwenden, der sie um Kopflänge überragt. Der Graf von Gleichen hält mit der Linken Schwert und Wappenschild. Über dem Leibrock trägt er einen ärmellosen, gefütterten Surcot mit Gürtel. Die Brust ziert eine große Brosche. Der Mantel mit angesetztem Pelzkragen lässt die rechte Schulter frei und wird mit der rechten Hand auf Höhe des rechten Oberschenkels straffgezogen. Da der Mantel nicht länger ist als der Surcot, sind die spitz zulaufenden Schuhe, die unter den Gewändern hervorragen, gut sichtbar. Die Haartracht, bei der eine Mähne aus nackenlangen Haaren über Stirn und Schläfen nach hinten gekämmt sind, ist auffällig und für die Zeit höchst ungewöhnlich. Die Dame auf der heraldisch rechten Seite des Grafen trägt ein langes Kleid mit Goldborten und einen gefütterten Tasselmantel mit Pelzbesatz. Auf der Brust prangt eine schildförmige Brosche, in der rechten Hand präsentiert sie ein Buch mit Lederschließen, die Linke hält den offenen Mantel zusammen. Das Gesicht wird durch das zeittypische Gebende eingefasst. Abb. 6 Detail der Tumbenplatte: Wappenschild mit dem Wappen der Grafen von Gleichen (Foto: Christian Forster).
Spätgotische Wandmalereien im salzburgisch- bayerischen Grenzgebiet: St. Philippus und Jakobus in Abtsdorf Mit einem Exkurs zur digitalen Erfassung von Wandmalerei in der virtuellen Forschungsumgebung WissKI HEIDRUN STEIN-KECKS
In der »Geschichte der fließenden Beziehungen« zwischen Bayern und Österreich spielt Salzburg eine besondere Rolle.1 Die engen Verflechtungen zwischen dem bayerischen Herzogtum und dem späteren Fürsterzbistum Salzburg verdichteten sich in den Zeiten von Baiuwarenmission und Bistumsorganisation im 7./8. Jahrhundert. Das Gebiet der Erzdiözese und das altbayerische Stammesgebiet überschnitten sich weitgehend, und »[v]om Frühmittelalter bis in das 14. Jh. galt Salzburg unbestritten als Teil von Bayern«, bis 1328 die Bestrebungen um die Abgrenzung der territorialen Hoheitsrechte zur Eigenständigkeit des Erzstiftes führten.2 Dessen Besitzungen und landesherrliche Strukturen dehnten sich auch im Gebiet westlich von Saalach und Salzach aus, das erst 1816 endgültig dem neuen Königreich Bayern zugeschlagen werden sollte, während das Gebiet östlich davon zu Österreich kam. Bis dahin führten die Flussläufe als Hauptverkehrswege und Lebensadern mitten durch das zu beiden Ufern gelegene Salzburger »Außergebirg«,3 dessen später bayerischer Teil sich nach der Abtrennung als »Rupertiwinkel«4 eine neue Identität in der Tradition des Salzburger Bistumspatrons konstruierte. Dort liegt Abtsdorf, dessen Kirche und Wandmalereien der Spätgotik hier kurz vorgestellt werden sollen.5 In diesem Zusammenhang von einem »salzburgisch-bayerischen Grenzgebiet« zu sprechen, entspringt eher einer neuzeitlichen Perspektive auf moderne Staatsgebiete; wobei im Hoch- und Spätmittelalter freilich immer wieder um Herrschafts- und Nutzungsrechte gestritten wurde und wichtige Orte durch Kauf, Verpfändung, Tausch und militärische Konflikte vom Erzstift zum Herzog und wieder zurück wanderten. Für die Kunstgeschichte liegt kaum eine nennenswerte Aussage in einer solchen Bezeichnung.6 Über die bekannten »Salzburger« Künstler der Zeit wissen wir vor allem von deren Mobilität, die sich in den Akten niederschlug. So kam beispielsweise Conrad Laib (um 1405–nach 1457) aus der Grafschaft Öttingen über Ulm und Nürnberg nach Salzburg; Rueland Frueauf (um 1440/1450–1507) ist als Bürger von Salzburg nachgewiesen, wo er vielleicht auch geboren ist, und dann als Bürger von Passau, wo er 1507 verstarb; Hans Valkenauer (um 1448–nach 1518) wurde 1479 in Salzburg eingebürgert; wo er zuvor ansässig war, ist umstritten.7 Sie folgten, wie viele andere, ungeachtet von Grenzverläufen dem Ruf der institutionell und individuell weitläufig vernetzten geistlichen und weltlichen Auftraggeber. Wandmalereien stehen für Ortsfestigkeit schlechthin. Allerdings verlangte deren Ausführung von Meistern und Mitarbeitern, dass sie überall dort ihre Werkstatt aufschlugen, wo ihre Kunstfertigkeit gefragt war. Architektur und die architekturgebundenen Künste tragen deswegen – ein nur scheinbares Paradox – einen wesentlichen Anteil an Austauschbeziehungen und Grenzüberschreitungen, nämlich über die beteiligten Akteure auf allen Ebenen eines Bau- und Ausstattungsprojektes. In dem oben kurz umrissenen Gebiet, das der Verwaltung des erzstiftischen Vizedomamts unterstand, boten im 15. Jahrhundert zahlreiche Kirchenneubauten attraktive Aufträge für umfangreiche Wandmalereien. Die dort ansässigen oder begüterten Mitglieder des Adels, der Ministerialität, der Geistlichkeit u. a. ließen nahezu ausnahmslos ältere Pfarr- und Filialkirchen erneuern oder ersetzen und neue Ziele lokaler Wallfahrten errichten.8 Ein Beispiel dafür ist die Kirche St. Philippus und Jakobus im genannten Abtsdorf, auf einer Anhöhe über dem südöstlichen Ufer des gleichnamigen Abtsdorfer oder kurz Abtsees gelegen (Abb. 1). Die nahe bischofseigene Stadt Laufen mit Pfleg-, Stadt- und Landgericht verfügte mit ihrer reichen Bürgerschaft über potente Auftraggeber für ortsansässige und auswärtige Künstler.9 Abtsdorf wiederum war, ausweislich einer Quelle vom Ende des 12. Jahrhunderts, Sitz eines erzbischöflichen Urbaramts mit zwei Höfen und einem weiteren umfangreichen hofurbarischen Gut.10 Eine Kirche wird erstmals 1463 in der Agenda der Pfarrei Salzburghofen genannt. Es heißt dort, dass am Tag der Apostel Philippus und Jakobus (d. J., 1. Mai) das Kirchenvolk aus Saaldorf und Surheim, das waren weitere Filialen derselben Pfarrei, zum Patrozinium der Kirche nach Abtsdorf kamen, wo zwei Priester die Messe bzw. die Predigt hielten; erwähnt wird außerdem ein Kirchenpfleger, der beide entlohnte, was nach Roth auf eine regelmäßige priesterliche Versorgung schließen lässt.11 Ein heute nicht mehr nachweisbarer Ablassbrief aus dem Jahr 1466 könnte mit Bau- oder Ausstattungsmaßnahmen in Verbindung stehen.12 Konkrete Hinweise auf die Datierung der bis heute bestehenden Kirche und ihre nicht zwingend bauzeitlichen Wandmalereien lassen sich daraus aber nicht ableiten. Die Bauform der Chorkirche findet sich in zahlreichen weiteren Beispielen in der Region, ohne dass eine genauere Datierung innerhalb des 15. Jahrhunderts präzisiert werden kann. Der außen schmucklose, verputzte Saalbau über umlaufendem Sockel mit dreiseitiger, nicht abgesetzter Apsis wird von einem steilen Satteldach gedeckt (Abb. 1). Bündig mit der Westwand schneidet ein einstöckiger Dachreiter mit spitzem Knickhelm, Blendgliederung und vier spitzbogigen Schallöffnungen ein, der 1847 anstelle des ursprünglichen Westturms errichtet wurde.13 An der Südseite wird das Kirchendach nahtlos über einen den
q 170 Heidrun Stein-Kecks mittleren beiden Jochen vorgelagerten Vorbau heruntergezogen, der in der westlichen Hälfte eine Vorhalle zum einzigen Portal in die Kirche sowie im östlichen Teil eine vom Kircheninneren, vom Chorjoch aus zugängliche Sakristei beherbergt. Hohe Spitzbogenfenster schließen in ihrer Gleichförmigkeit das Chorjoch mit dem Polygon als fünfseitigen Chorbau zusammen.14 Die Nordseite des Saalbaus weist bis auf ein kleines Rechteckfenster keine Öffnungen auf, was für dort ehemals bestehende bauliche Strukturen spricht. Vermutlich stammt es wie das gleichartige Fenster in der Westwand aus der Zeit nach der Abtragung des Turms im 19. Jahrhundert; darüber im Scheitel ein Okulus (Abb. 2, 3). Das westliche der insgesamt vier Joche wird von einer (erneuerten) hölzernen Empore eingenommen; das östliche ist um eine niedrige Stufe erhöht und verbindet als Chorjoch das Langhaus mit der dreiseitigen Apsis. Die Jochgliederung erfolgt durch Halbsäulen mit fünfseitig abgefasten Kapitellen auf gekehlten Wandvorlagen. Das tief heruntergezogene Netzgewölbe entbehrt der ursprünglichen plastischen Rippen, die im 17. Jahrhundert zu Gunsten einer zeitgemäßen Raumfassung abgeschlagen wurden. Als erster dokumentierter Schritt einer Barockisierung wurde 1628 ein neuer Hochaltar als Stiftung des Johann Kaspar von Kuenburg (gest. 1628), Land- und Urbarrichter in Abtsdorf u. a., errichtet.15 Weitere Ausstattungsstücke weisen auf eine zweite Erneuerungsphase in den 1670er und 1680er Jahren hin: So trägt ein Beichtstuhl, der wohl gleichzeitig mit Kanzel und Chorgestühl gefertigt wurde, die Jahreszahl 1676. Das Altarblatt mit dem Hl. Florian im ursprünglich seitlich postierten, heutigen Hochaltar ist 1688 datiert und signiert von Johann Michael Rottmayr (1654–1730), dem in Laufen gebürtigen, späteren fürsterzbischöflichen und kaiserlichen Hofmaler.16 Ein erster Hinweis auf eine mittelalterliche Ausmalung findet sich im Denkmälerinventar von 1905: »An den Wänden und der Decke sind allenthalben unter der späteren Tünche Spuren einer durchgängigen spätgothischen Ausmalung der Kirche zu bemerken, ornamentale und figürliche Darstellungen; von letzteren noch über der Thüre eine Kreuztragung, Auferstehung und Apostelfiguren kenntlich«.17 In einer Mitteilung vom 20. Mai 1906 an das Direktorium des Generalkonservatoriums notierte ein gewisser Anton Holzbauer, Steueradjunkt, seine vor Ort von der Kirche gewonnenen Eindrücke. In der »sehr alten Kirche«, die er mit Vorbehalt (»wenn ich nicht irre«) ins 12. Jahrhundert datierte, sah er »an deren Deckgewölbe durch die jetzige Weißtüncheschichte (sic) Fresken schimmern«. Aufgrund der Tatsache, dass sie als »Privatkirche der Salzburger Erzbischöfe hergestellt worden« und der Ort einst von einer »größeren Bedeutung« gewesen sei, was er einem in der Kirche aushängenden Auszug aus einer Chronik entnommen habe, vermutete er, dass »die jetzt übertünchten Fresken in der Kirche [...] wahrscheinlich nur von besten Künstlerhänden geschaffen wurden und nun dem Verfall entgegen gehen.«18 Mit Verweis auf den Eintrag im Band der Kunstdenkmäler korrigierte man im Generalkonservatorium in einer Notiz zu diesem Schreiben die Datierung des Baus ins späte 15. Jahrhundert; die Ausmalung sei wenig jünger, wobei nicht zwischen der von Holzbauer lokalisierten Deckenmalerei und Malereien an den Wänden oder verschiedenen Ausmalungsphasen differenziert wird. Abschließend wird festgestellt: »Es besteht kein dringender Grund, an eine Aufdeckung der Fresken, die ziemlich erhebliche Mittel beanspruchen würde, z. Z. heranzutreten. Die Malereien scheinen nicht hervorragender Art zu sein. Mittel aus Staatsfonds könnten kaum in Frage kommen und solche aus dem Kirchensvermögen (sic) dürften kaum zur Verfügung stehen.«19 Diese Befürchtung bestätigt sich, als sechs Jahre später nach dem Abschluss von Reparaturen am Turm eine Entscheidung über die Renovierung des Innenraums getroffen werden sollte. Dem Wunsch der »Filialisten von Abtsdorf [...], daß auch die Kirche im Inneren nun übertüncht wird«, sieht sich der damals als Pfarrvikar von Saaldorf amtierende Pfarrer von Salzburghofen »wegen der deutlichen und schönen Spuren von Abb. 1 Filialkirche St. Philippus und Jakobus, Abtsdorf, 15. Jh. (Reproduktion nach Postkarte, Abtsdorf, Kirche).
Spätgotische Wandmalereien im salzburgisch-bayerischen Grenzgebiet: St. Philippus und Jakobus in Abtsdorf 171 q früherer Ausmalung, die anscheinend hinter der Tünche sehr gut erhalten ist, gezwungen entgegenzuwirken.« Da weder in der Pfarrei noch in der Filiale Gelder vorhanden seien, richtet der Pfarrer »daher an das Kgl. Generalkonservatorium die ergebenste Anfrage und Bitte ob ihm nicht die Mittel zur Verfügung stehen, wenigstens 2 Bilder durch fachmännischer Seite von der Tünche losgelegt werden könnten, um dem gläubigen Volk die Schönheit der früheren Ausmalung darzustellen und bei ihm Sinn und Verständnis für Erhaltung der alten Kunstdenkmale in ihrer Kirche zu wecken.«20 Ob mit den »2 Bilder[n]« die in den Kunstdenkmälern ausdrücklich genannten Darstellungen der Kreuztragung und Auferstehung gemeint sind, lässt sich aufgrund der Tünchung der betreffenden Südwand Mitte der 1950er Jahre nicht mehr beurteilen. Georg Hager, damals Generalkonservator, musste diesem Wunsch jedenfalls eine Absage erteilen, kündigte aber den baldigen Besuch durch einen der Mitarbeiter an und verfügte, bis dahin keinerlei Arbeiten vornehmen zu lassen.21 In einem ausführlicheren Schreiben an das Pfarramt präzisierte Hager den Befund, vermutlich aufgrund der inzwischen erfolgten Bestandsaufnahme vor Ort, und differenzierte zwischen zwei stilistisch voneinander zu trennenden Malschichten, von denen »die jüngere, sehr reiche aber nur mittelmäßige Darstellungsmalerei [...] so zwischen den sich leicht lösenden Tüncheschichten [steht], daß ihre Bloßlegung und Erhaltung fast unmöglich ist. Unter den Schichten, in Fresko gemalt, befinden sich die einfachen aber sehr guten spätgothischen Malereien die noch größtenteils unversehrt zum Vorschein kommen. So lassen diese Spuren an der Wand gegenüber der Eingangsthür eine St. Christophorusfigur ahnen, darunter befindet sich in 3 Farben gemalt ein Sockelfriesornament mit eingesetztem Apostelkreuz.« Überzeugt von der Qualität der mittelalterlichen Ausmalung empfiehlt Hager eine Münchener Kirchenmalerfirma und stellt die Befürwortung für »einen dem Wert der Malereien entsprechenden Staatszuschuss« in Aussicht. Abschließend mahnt er: »Auf keinen Fall dürfen die nun schon freigelegten Stellen nun übertüncht werden.«22 Zu einer grundlegenden Sanierungsmaßnahme und teilweisen Freilegung der spätgotischen Wandmalereien kam es dann erst 1955.23 In welchem Zustand sich die Raumschale damals präsentierte, welcher barocke Befund mit der Abtragung bis auf die mittelalterliche Malschicht zerstört oder wieder übermalt wurde, und wie weitreichend die Eingriffe und Ergänzungen im Zuge der Restaurierung gingen, lässt sich nicht mehr verifizieren.24 Der erste Eindruck vom Kirchenraum ist heute geprägt von einer hellen Buntfarbigkeit von Ockergelb-, Grün-, Blau- und Rottönen sowie dem Kalkweiß des Putzgrundes, deren ursprüngliche Leuchtkraft trotz der teilweise offensichtlichen Veränderungen ihrer Erscheinung durch mechanische und chemische Prozesse im Lauf der Jahrhunderte leicht vorstellbar ist.25 Diese Farben verteilen sich auf alle Elemente der ursprünglich die Raumschale wohl vollständig einnehmenden Malereien, wie Gewänder, Ornamente und Flächenfüllungen der von den spitzen Schildbögen und Wandvorlagen vorAbb. 2 Innenraum der Filialkirche St. Philippus und Jakobus, nach Osten, Abtsdorf, 15. Jh. [Foto: Ricaralovesmonuments; https://upload. wikimedia.org/wikipedia/commons/3/31/St._Jakobus_major_%28Abtsdorf%29_Innenraum_1.jpg; CC BY SA 4.0, via Wikimedia Commons]. Abb. 3 Innenraum der Filialkirche St. Philippus und Jakobus, nach Westen, Abtsdorf, 15. Jh. [Foto: Ricaralovesmonuments; https://upload. wikimedia.org/wikipedia/commons/6/63/St._Jakobus_major_%28Abtsdorf%29_Innenraum_2.jpg; CC BY SA 4.0, via Wikimedia Commons].
q 172 Heidrun Stein-Kecks gegebenen Bildfelder. Des Weiteren fallen die fast lebensgroßen Einzelfiguren in jedem der Joche ins Auge, die zusammen mit dem überlebensgroß hervorgehobenen Christophorus den formalen und ikonografischen Kern der Ausmalung bilden. Von farblich kontrastierenden Ehrentüchern hinterfangen und mit verschiedenfarbigen Nimben ausgezeichnet,26 präsentieren sie sich in ebenso feierlicher Pose wie in leichter Bewegung aufeinander zu und umgrenzen den Innenraum mit einer Versammlung von Heiligen. Narrative Szenen bzw. biblische oder hagiografische Historienbilder fehlen dagegen. Als drittes prägendes Element treten vielfältige Rankenornamente hervor, fein gezeichnete und locker geschwungene Blatt- und Blütenranken, ohne geometrische Strenge oder sich wiederholenden Musterrapport, in breiten Friesen, als Bildgrund, als Figurenbaldachin, Stoffmusterung, die Architektur begleitend und die Bildfelder rahmend. Alles in allem dominiert den Eindruck nicht die bauliche Geschlossenheit eines Innenraumes, vielmehr suggeriert die Malerei einen durch die Reihe der Heiligen und textile Behänge umgrenzten Ort in einer ornamental gestalteten »Natur«; sie eröffnet zudem einen Blick in den mit (heute roten, kaum mehr erkennbaren) Sternen überzogenen »Himmel«, in dem weitere als Einzelfiguren herausgehobene Heilige in den Lünettenfeldern als einem zweiten Register erscheinen. Im Einzelnen betrachtet, variiert die Gestaltung der Joche aufgrund formaler, architektonischer oder auch ikonografischer Notwendigkeiten. Der heute sichtbare Bestand der spätgotischen Malereien erstreckt sich über die drei östlichen Jochfelder der Nordseite (Schiff und Chor) sowie das nördliche des Apsispolygons (Abb. 4, 5). In den weiteren Apsisfeldern sowie an der Südseite wurden Rundbilder mit Büsten der Apostel mit Weihekreuzen inselartig freigelegt. Sie scheinen die älteste Schicht der figürlichen Ausmalung darzustellen, denn dort, wo weitere Malereien freigelegt sind, nehmen diese auf die demnach bereits vorhandenen Medaillons Rücksicht. Im mittleren Joch des Kirchenschiffes, dem Eingang direkt gegenüber, erscheint die Gestaltung der gesamten Schildbogenfläche als einheitliche Komposition (Abb. 6). Der Aposteltondo, in dem hier der Hl. Thomas mit Lanze, bärtig, mit grünlichem, über den Kopf gezogenem Umhang über einem weißen Gewand dargestellt ist, das Weihekreuz auf der Brust, markiert etwa in Augenhöhe die Mitte der Jochbreite. Der heute schwarz erscheinende Rahmen, der einen profilierten Holzrahmen um den gelben Grund nachahmt und damit den Tondo als eigenständiges »Bild« an der Wand erscheinen lässt,27 sprengt in flachen Segmentbögen die gelbe Begrenzung über und unter einem breiten Rankenfries, der als Sockel für das große Bildfeld dient. Die mit gelben Blüten besetzte Blattranke aus schmalen grünen und Abb. 4 Nordwand der Filialkirche St. Philippus und Jakobus, Blick von der Empore, Abtsdorf, 15. Jh. (Foto: Heidrun Stein-Kecks).
Spätgotische Wandmalereien im salzburgisch-bayerischen Grenzgebiet: St. Philippus und Jakobus in Abtsdorf 173 q (heute) schwärzlichen Zweigen setzt sowohl in der linken, als auch in der rechten unteren Ecke an den jochgliedernden Wandvorlagen an. Wie sich beide Ranken in je unterschiedlicher Weise vor dem Tondo in der Mitte einrollen, lässt den Willen zur Integration des Apostelbildes erkennen, ohne dass sich in diesem Fall daraus eine zeitgleiche oder -versetzte Entstehung ableiten lässt. Ebenso zentriert erhebt sich darüber die eindrucksvolle, das Bildfeld füllende Figur des Hl. Christophorus mit dem Christuskind. Breitbeinig steht er im Fluss, mit leicht gebeugten Knien und nach außen weisenden Füßen. Dieser frontalen Ausrichtung widerspricht ein ausgeprägter Hüftknick, der eine Bewegung des Oberkörpers zur Seite, nach (heraldisch) links, anzeigt; verstärkt durch den Griff mit ausgestrecktem Arm zum mächtigen Stab – ein ganzer Baum mit Wurzeln und Krone, die über den Schildbogen hinaus ins Gewölbe zu wachsen scheint. Diese Bewegung lässt sich als eine Art Ausweichen unter der Last des Kindes auf der rechten Schulter lesen, zu dem Christophorus den Kopf zurückwendet. Der Knabe erwidert diesen Blick, während seine Rechte weit ausholend und für die Eintretenden gut sichtbar zum Segensgestus erhoben ist. In seinem weißen Kleid mit vorne geteiltem rotem Kragensaum lassen sich wenige dünne Linien ausmachen, die einen im Sitzen entstehenden Faltenwurf anschaulich machten. Die Frage, wo und wie genau das Kind positioniert ist, wird dadurch unwichtig, dass sein gesamter Körper an Nacken, Schulter und Kopf seines Trägers geschmiegt ist und dort Halt findet. Der Verankerung beider sowohl miteinander als auch im Bildfeld dienen auch die gegengleich ausschwingenden weißen Bänder vom Gewand des Kindes und von der Stirn des Christophorus. Die Kleidung des Christusträgers gibt Rätsel auf, da im heutigen Zustand der Verlauf der Arme im kurzen taillierten Rock und dem aufgebauschten Schultermantel, dessen farblich abgesetztes Innenfutter durch die Bewegung nach außen umschlägt, nicht mehr klar zu erkennen ist; nur die Hände geben einen Hinweis darauf, wie er mit der Linken seitlich nach oben zum Stab und mit der Rechten zur Körpermitte nach unten an den Gürtel bzw. einen daran befestigten Beutel greift.28 Die reiche Ornamentierung des Rockes in farbigen Streifen mit fein gezeichneter Rankenmusterung29 verstärkt die Verwirrung, da diese die Körperformen und -bewegungen überlagern, den beschriebenen Hüftknick durch ihren Verlauf aber stark betonen; flächige Ergänzungen durch die Restaurierung verunklären zusätzlich die Gestaltung. Allerdings deuten einige schwarze Linien noch auf eine verlorene Binnenzeichnung und Abschattierung von vertikalen Faltenstegen hin, was einen ganz anderen Eindruck eines ursprünglich plastisch modellierten Gewandes vermuten lässt. Der Saum eines roten Hemdes, das unter dem bunten Rock in Kniehöhe hervorlugt, Abb. 5 Nordwand der Filialkirche St. Philippus und Jakobus, Blick vom Altar, Abtsdorf, 15. Jh. (Foto: Heidrun Stein-Kecks).
Von allen Sinnen Über eine Zeichnung des Danziger Künstlers Anton Möller d. Ä. aus dem frühen 17. Jahrhundert WILFRIED FRANZEN
Es ist eine seltsame Gesellschaft, die sich hier in einem nicht näher definierten Innenraum um einen Tisch versammelt hat (Abb. 1): Links sitzt ein älterer Mann, der sich eine Klemmbrille auf die Nase gesetzt hat, um in einem aufgeschlagenen Buch eine Kreuzigungsdarstellung zu studieren. Neben ihm steht ein Musiker, der konzentriert seine Laute stimmt – er hat sein Ohr an den Korpus seines Instruments gelegt und dreht mit seiner Linken an einem Wirbel, während seine Rechte eine Saite anspielt. Sein Nachbar ist ein beleibter Mönch, der in sich versunken einen großen gefüllten Becher an seinen Mund führt. Rechts wird eine Frau im Profil gezeigt, die an einer Blume riecht und zugleich einen kleinen Jungen stützt, der halb entblößt auf dem Tisch liegt. Mit weit geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen schaut dieser direkt den Betrachter an. Seine Mimik soll offenkundig den Ausdruck von Schmerz vermitteln, dessen Ursache ein näherer Blick offenbart: Auf seinem Oberschenkel sitzt ein Vogel, der in das Genital des Jungen beißt. Was wir hier sehen, ist eine Darstellung der Fünf Sinne (Visus/Gesicht, Auditus/Gehör, Gustus/Geschmack, Olfactus/Geruch und Tactus/Gefühl), eine sorgfältig mit schwarzer Tusche ausgeführte Federzeichnung, in die mit weißer Kreide einzelne Höhen gesetzt wurden. Das 257 × 385 mm große Blatt Papier wird heute in den Sammlungen des Amsterdamer Rijksmuseums verwahrt.1 Auf der Rückseite ist es – ein seltener Glücksfall – mit einer Widmung versehen worden, der wir entnehmen können, dass es sich offenbar um ein Auftragswerk (als Geschenk?) handelt: Dem Ehrbaren vnd Kunstreichen Herrn Gregor[. . .] / Kongeln des Lheibs-[. . .] Herrn Frid[. . .] / lautenisten vnd musico. [. . .] dis Stue[. . .] / macht in Danzick zu guten gedechtnis . 16[. . .] / den 4 maij. Der Umstand, dass Teile der Inschrift verdeckt und andere nicht entziffert werden können, verhindert eine weitergehende Interpretation der Auftragsumstände. Die Federzeichnung kann dem aus Königsberg stammenden und in Danzig tätigen Maler Anton Möller d. Ä. (1563–1611) zugeschrieben werden.2 Die beiden lesbaren Ziffern der Datierung weisen auf eine Entstehung im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts hin. Anton Möller zählt zu den angesehensten Künstlern seiner Zeit in Danzig und wurde mit bedeutenden öffentlichen Aufträgen betraut, wie der Ausschmückung des Großen Saals des Artushofes für die Danziger Bankenbruderschaften. Hier schuf er u. a. für die Schildwand der Gerichtsbank das monumentale Gemälde mit Abb. 1 Anton Möller d. Ä., Die Fünf Sinne, um 1600/10, Pinsel/Papier, 257 × 385 mm, Amsterdam, Rijksmuseum, Inv.-Nr. RP-T-1916-28 (Foto: Rijksmuseum, Amsterdam).
q 252 Wilfried Franzen der Darstellung des Jüngsten Gerichts, das eine ungewöhnliche, von der Bildtradition abweichende Ikonografie zeigt, indem eine eher weltliche Interpretation des Themas vorgenommen wird (als Kampf zwischen den Tugenden und Lastern).3 Zugleich hat Möller ein großes Konvolut an Zeichnungen hinterlassen, das zahlreiche Skizzen und Vorstudien, aber auch autonome Werke mit zumeist moralisierenden Darstellungen umfasst, zu denen auch das Amsterdamer Blatt gerechnet werden kann.4 Ebenso wie andere serielle Allegorien (zu den Tugenden und Lastern, den Jahresszeiten oder Planeten) erlangte das Thema der Fünf Sinne kurz nach Mitte des 16. Jahrhunderts und ausgehend von den Niederlanden eine ungemeine Popularität.5 Gedruckte Grafiken zirkulierten in ganz Europa und regten zu Nachahmungen und Weiterentwicklungen an. Die bildkünstlerischen Umsetzungen spiegeln hierbei die ambivalente Bewertung der Sinne wider: Einerseits galten sie als die Organe der Seele, die zur Wahrnehmung der Heilsbotschaft und der göttlichen Ordnung dienten, andererseits wurde eine übermäßige Hingabe an die Sinne den Lastern gleichgestellt.6 Einen nachhaltigen Einfluss besaß eine von Frans Floris entworfene und von Cornelis Cort gestochene Grafikserie, die 1561 von Hieronymus Cock in Antwerpen veröffentlicht wurde.7 Das von Floris entwickelte Darstellungsprinzip prägt die Ikonografie der nachfolgenden Fünf-Sinne-Allegorien bis in das frühe 17. Jahrhunderts.8 Die Darstellung der einzelne Sinne erfolgt in Gestalt weiblicher Personifikationen, denen im Rückgriff auf mittelalterliche Bildtraditionen unterschiedliche Tiere zugeordnet werden (Adler, Hirsch, Hund, Affe und Spinne) und die zusätzlich sinnfällige Attribute erhalten: einen Spiegel, eine Laute, Früchte, Blumen sowie für das Gefühl einen Papagei, der in den Finger der Personifikation beißt (Abb. 2) – letzteres ein Motiv, das unzweideutig sexuell konnotiert war, als Anspielung auf die gängige Wendung voghelen (einen Vogel fangen).9 Floris kombiniert dieses Motiv mit dem erhobenen Zeigefinger der rechten Hand, der als Mahnung zur Mäßigung gedeutet werden kann, und fügt überdies mit einer Schildkröte als Symbol der Keuschheit ein weiteres Tier hinzu. Eine frühe Rezeption niederländischer Stichserien zu den Fünf Sinnen in Ostmitteleuropa und zugleich bemerkenswerte Variation findet sich am Sarkophag des letzten jagiellonischen Herrschers auf dem polnischen Thron, dem 1572 verstorbenen Sigismund August.10 Der von einer Danziger Zinngießerwerkstatt geschaffene Zinnsarkophag war noch zu Lebzeiten des Königs begonnen worden.11 Sein originelles Programm wurde wahrscheinlich von Gelehrten und Humanisten aus dem Umfeld des Königs und möglicherweise unter seiner Mitwirkung entworfen: Anstelle von Schlachtenszenen oder anderen Heldendarstellungen, die zur Verherrlichung des Verstorbenen beitragen sollen, oder biblischer Szenen schmückt hier ein Fünf-Sinne-Programm die Seitenwände. Die Personifikationen sind allerdings – stellvertretend für den Verstorbenen – in Schlaf gefallen und symbolisieren das Ende der sinnlichen Wahrnehmung und damit auch der sinnlichen Freuden. Lateinische Verse begleiten erläuternd die Szenen.12 Das Gefühl (Tactus) ist an das Fußende des Sarkophags platziert (Abb. 3). Der obligatorische Papagei ist hier auf die Schulter der Personifikation geklettert um sie scheinbar Abb. 2 Cornelis Cort (nach Frans Floris), Tactus, 1561, Kupferstich, 209 × 268 mm, Amsterdam, Rijksmuseum, Inv.-Nr. RP-P-1950-336 (Foto: Rijksmuseum, Amsterdam). Abb. 3 Tactus, Sarkophag König Sigismunds August, 1572, Krakau, Wawel-Kathedrale, Krypta, Zustand während der Restaurierung, Foto: Agnieszka Trzos (aus: Kolendo-Korczak/Trzos 2018).
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