Leseprobe

Es ist eine seltsame Gesellschaft, die sich hier in einem nicht näher definierten Innenraum um einen Tisch versammelt hat (Abb. 1): Links sitzt ein älterer Mann, der sich eine Klemmbrille auf die Nase gesetzt hat, um in einem aufgeschlagenen Buch eine Kreuzigungsdarstellung zu studieren. Neben ihm steht ein Musiker, der konzentriert seine Laute stimmt – er hat sein Ohr an den Korpus seines Instruments gelegt und dreht mit seiner Linken an einem Wirbel, während seine Rechte eine Saite anspielt. Sein Nachbar ist ein beleibter Mönch, der in sich versunken einen großen gefüllten Becher an seinen Mund führt. Rechts wird eine Frau im Profil gezeigt, die an einer Blume riecht und zugleich einen kleinen Jungen stützt, der halb entblößt auf dem Tisch liegt. Mit weit geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen schaut dieser direkt den Betrachter an. Seine Mimik soll offenkundig den Ausdruck von Schmerz vermitteln, dessen Ursache ein näherer Blick offenbart: Auf seinem Oberschenkel sitzt ein Vogel, der in das Genital des Jungen beißt. Was wir hier sehen, ist eine Darstellung der Fünf Sinne (Visus/Gesicht, Auditus/Gehör, Gustus/Geschmack, Olfactus/Geruch und Tactus/Gefühl), eine sorgfältig mit schwarzer Tusche ausgeführte Federzeichnung, in die mit weißer Kreide einzelne Höhen gesetzt wurden. Das 257 × 385 mm große Blatt Papier wird heute in den Sammlungen des Amsterdamer Rijksmuseums verwahrt.1 Auf der Rückseite ist es – ein seltener Glücksfall – mit einer Widmung versehen worden, der wir entnehmen können, dass es sich offenbar um ein Auftragswerk (als Geschenk?) handelt: Dem Ehrbaren vnd Kunstreichen Herrn Gregor[. . .] / Kongeln des Lheibs-[. . .] Herrn Frid[. . .] / lautenisten vnd musico. [. . .] dis Stue[. . .] / macht in Danzick zu guten gedechtnis . 16[. . .] / den 4 maij. Der Umstand, dass Teile der Inschrift verdeckt und andere nicht entziffert werden können, verhindert eine weitergehende Interpretation der Auftragsumstände. Die Federzeichnung kann dem aus Königsberg stammenden und in Danzig tätigen Maler Anton Möller d. Ä. (1563–1611) zugeschrieben werden.2 Die beiden lesbaren Ziffern der Datierung weisen auf eine Entstehung im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts hin. Anton Möller zählt zu den angesehensten Künstlern seiner Zeit in Danzig und wurde mit bedeutenden öffentlichen Aufträgen betraut, wie der Ausschmückung des Großen Saals des Artushofes für die Danziger Bankenbruderschaften. Hier schuf er u. a. für die Schildwand der Gerichtsbank das monumentale Gemälde mit Abb. 1 Anton Möller d. Ä., Die Fünf Sinne, um 1600/10, Pinsel/Papier, 257 × 385 mm, Amsterdam, Rijksmuseum, Inv.-Nr. RP-T-1916-28 (Foto: Rijksmuseum, Amsterdam).

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