q 252 Wilfried Franzen der Darstellung des Jüngsten Gerichts, das eine ungewöhnliche, von der Bildtradition abweichende Ikonografie zeigt, indem eine eher weltliche Interpretation des Themas vorgenommen wird (als Kampf zwischen den Tugenden und Lastern).3 Zugleich hat Möller ein großes Konvolut an Zeichnungen hinterlassen, das zahlreiche Skizzen und Vorstudien, aber auch autonome Werke mit zumeist moralisierenden Darstellungen umfasst, zu denen auch das Amsterdamer Blatt gerechnet werden kann.4 Ebenso wie andere serielle Allegorien (zu den Tugenden und Lastern, den Jahresszeiten oder Planeten) erlangte das Thema der Fünf Sinne kurz nach Mitte des 16. Jahrhunderts und ausgehend von den Niederlanden eine ungemeine Popularität.5 Gedruckte Grafiken zirkulierten in ganz Europa und regten zu Nachahmungen und Weiterentwicklungen an. Die bildkünstlerischen Umsetzungen spiegeln hierbei die ambivalente Bewertung der Sinne wider: Einerseits galten sie als die Organe der Seele, die zur Wahrnehmung der Heilsbotschaft und der göttlichen Ordnung dienten, andererseits wurde eine übermäßige Hingabe an die Sinne den Lastern gleichgestellt.6 Einen nachhaltigen Einfluss besaß eine von Frans Floris entworfene und von Cornelis Cort gestochene Grafikserie, die 1561 von Hieronymus Cock in Antwerpen veröffentlicht wurde.7 Das von Floris entwickelte Darstellungsprinzip prägt die Ikonografie der nachfolgenden Fünf-Sinne-Allegorien bis in das frühe 17. Jahrhunderts.8 Die Darstellung der einzelne Sinne erfolgt in Gestalt weiblicher Personifikationen, denen im Rückgriff auf mittelalterliche Bildtraditionen unterschiedliche Tiere zugeordnet werden (Adler, Hirsch, Hund, Affe und Spinne) und die zusätzlich sinnfällige Attribute erhalten: einen Spiegel, eine Laute, Früchte, Blumen sowie für das Gefühl einen Papagei, der in den Finger der Personifikation beißt (Abb. 2) – letzteres ein Motiv, das unzweideutig sexuell konnotiert war, als Anspielung auf die gängige Wendung voghelen (einen Vogel fangen).9 Floris kombiniert dieses Motiv mit dem erhobenen Zeigefinger der rechten Hand, der als Mahnung zur Mäßigung gedeutet werden kann, und fügt überdies mit einer Schildkröte als Symbol der Keuschheit ein weiteres Tier hinzu. Eine frühe Rezeption niederländischer Stichserien zu den Fünf Sinnen in Ostmitteleuropa und zugleich bemerkenswerte Variation findet sich am Sarkophag des letzten jagiellonischen Herrschers auf dem polnischen Thron, dem 1572 verstorbenen Sigismund August.10 Der von einer Danziger Zinngießerwerkstatt geschaffene Zinnsarkophag war noch zu Lebzeiten des Königs begonnen worden.11 Sein originelles Programm wurde wahrscheinlich von Gelehrten und Humanisten aus dem Umfeld des Königs und möglicherweise unter seiner Mitwirkung entworfen: Anstelle von Schlachtenszenen oder anderen Heldendarstellungen, die zur Verherrlichung des Verstorbenen beitragen sollen, oder biblischer Szenen schmückt hier ein Fünf-Sinne-Programm die Seitenwände. Die Personifikationen sind allerdings – stellvertretend für den Verstorbenen – in Schlaf gefallen und symbolisieren das Ende der sinnlichen Wahrnehmung und damit auch der sinnlichen Freuden. Lateinische Verse begleiten erläuternd die Szenen.12 Das Gefühl (Tactus) ist an das Fußende des Sarkophags platziert (Abb. 3). Der obligatorische Papagei ist hier auf die Schulter der Personifikation geklettert um sie scheinbar Abb. 2 Cornelis Cort (nach Frans Floris), Tactus, 1561, Kupferstich, 209 × 268 mm, Amsterdam, Rijksmuseum, Inv.-Nr. RP-P-1950-336 (Foto: Rijksmuseum, Amsterdam). Abb. 3 Tactus, Sarkophag König Sigismunds August, 1572, Krakau, Wawel-Kathedrale, Krypta, Zustand während der Restaurierung, Foto: Agnieszka Trzos (aus: Kolendo-Korczak/Trzos 2018).
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