Leseprobe

Von allen Sinnen 253 q wachzuküssen. Am Kopfende wird als Antithese zu den Sinnen und der Sterblichkeit des Köpers die Personifikation der unsterblichen Seele dargestellt – sie ist bezeichnenderweise als einzige der Personifikationen wach.13 Eine konkrete Vorlage für die Kompositionen konnte bislang nicht ermittelt werden.14 Der Künstler bedient sich hier der Motive und einiger Versatzstücke aus der Serie von Cornelis Cort. Ihre Umdeutung ist indes ohne Parallele. Die Zusammenführung der Sinnes-Personifikationen in einer gemeinsamen Komposition erfolgte um 1590 in den auf Zeichnungen Adams van Noort basierenden Kupferstichen von Antonius Wierix d. J. und Adriaen Collaert.15 Der Stich Adriaen Collaerts16 zeigt die Fünf Sinne dabei erstmals als »Tischgesellschafft« (Abb. 4). Das gesamte Setting ist, wenn auch im Freien platziert, als Bordellszene gehalten, indem die einzelnen Personifikationen der hier am Tisch sitzenden männlichen Gestalt die jeweiligen Sinnesfreuden bereiten, womit der negative Aspekt der Sinneswahrnehmungen herausgestellt wird. Entsprechend wird der Mensch in der lateinischen Bildunterschrift zur Mäßigung und zu einem umsichtigen Umgang mit den Sinnen aufgefordert.17 Gegenüber diesen älteren Allegorien wartet Anton Möller d. Ä. mit einer anderen Lösung auf: Er vereint alle Sinne in einer (angedeuteten) häuslichen Szenerie und gibt den Personifikationen ein alltägliches Antlitz. Für seine Komposition bedient sich Möller der auf Aristoteles zurückgehenden Hierarchisierung der Sinne, nach der das Sehen als wichtigster Sinn eingeordnet wird, gefolgt vom Hören, Schmecken, Riechen und Fühlen, und bringt dies prononciert zum Ausdruck. Das Sehen dient dem Studium geistlicher Bücher und Darstellungen. Das Hören, durch den Vorgang des Stimmens nochmals betont, ist mit dem mutmaßlichen Auftraggeber, dem »Lautenisten und Musiker«, verbunden. Die »niederen« Sinne sind hingegen in die rechte Hälfte gedrängt. Möller nutzt die Darstellung des Geschmacksinns für eine Kritik am Mönchtum mit der karikierenden Zeichnung eines trinksüchtigen Mönchs – ein Motiv, das sich wiederholt in seinem zeichnerischen Œuvre findet.18 Das Riechen ist bezeichnenderweise mit der einzigen Frau in dieser Runde verbunden und ist gerade in der Gegenüberstellung mit dem frommen Sehen als eitler, wenig nützlicher Sinn zu verstehen. Für das Fühlen als niedrigsten Sinn wählt der Künstler schließlich eine bemerkenswerte Variation der TactusIkonografie. Möller erlaubt sich hier einen aus heutiger Sicht befremdlichen – grenzüberschreitenden – Scherz: Einerseits verharmlost und entsexualisiert er die Darstellung, indem er das erotische Element der weiblichen Allegorie durch ein unschuldiges Kleinkind ersetzt, das Abb. 4 Adriaen Collaert (nach Adam van Noort), Die Fünf Sinne, um 1590, Kupferstich, 222 × 271 mm, Amsterdam, Rijksmuseum, Inv.-Nr. RP-P-BI-6081 (Foto: Rijksmuseum, Amsterdam).

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