q 254 Wilfried Franzen das Gefühl als Schmerz erlebt. Das Wissen um die tiefere Bedeutung des Vogelbisses wird aber zugleich durch den Biss in das Genital des Jungen explizit vor Augen geführt. Und doch schwingt bei aller sexuellen Konnotation möglicherweise noch eine andere Bedeutung mit: Die Art und Weise, wie der Knabe auf dem Tisch liegend dem Betrachter präsentiert wird, weckt Assoziationen mit Darstellungen des Jesuskinds bei der Beschneidung Christi19 – der Vogelbiss ließe sich dementsprechend als Anspielung auf die Zirkumzision interpretieren. Das Thema der Fünf Sinne verarbeitete Anton Möller d. Ä. in ähnlicher Weise offenbar noch ein weiteres Mal: So ist eine Variante der Amsterdamer Komposition mit einer 1609 datierten und mit dem Monogramm des Künstlers versehenen Zeichnung überliefert, von der wir gleichwohl nur eine Fotografie kennen, sodass sich ihre Echtheit nicht mehr verifizieren lässt (Abb. 5).20 Es handelt sich um eine, wie älteren Beschreibungen zu entnehmen ist, weiß gehöhte Feder- und Tuschezeichnung auf blau grundiertem Papier, das ca. 340 × 400 mm maß. Sie ist mit VIVE MEMOR CHRISTI betitelt. Der Künstler verknüpft hier auf geschickte Weise die FünfSinne-Allegorie mit dem Vanitas-Thema. Erneut ist es eine häusliche Szenerie mit einem ähnlichen Setting und z. T. übereinstimmendem Personal. Der Greis mit Brille studiert hier einen Totenschädel, der neben einem mit Klammern verschlossenen Buch liegt, dessen Buchdeckel mit MEMOR VIVE MEMOR AET.I beschriftet ist. Eine Matrone hinter ihm blickt über seine Schulter hinweg ebenfalls auf den Schädel. Das »Hören« repräsentiert eine junge Frau, die hinter dem Tisch steht und mit erhobenem Zeigefinger auf eine tickende Wanduhr weist, die mit dem Schriftzug MEMENTO MORI versehen ist. Mit ihrer Linken umfasst sie ein Kind, das auf dem Tisch liegt und versonnen an einer Rose schnuppert. Auch die beiden weiteren »niederen« Sinne werden durch Kinder repräsentiert, die die Zeichen der Vergänglichkeit nicht wahrnehmen: ein Junge, der eine Birne isst und eine Hand begehrlich nach weiteren Früchten auf dem Tisch ausstreckt, sowie ein weiterer Knabe, der von einem kleinen, auf dem Tisch tobenden Hund in den Finger gebissen wird. In seinen beiden Zeichnungen nimmt Anton Möller die erzählerischen Genredarstellungen der Fünf Sinne vorweg, die sich im Laufe des 17. Jahrhunderts etablieren sollten. Dort dominieren die moralisierenden Aspekte zu den Lastern, insbesondere der Völlerei und Wollust. Diese Aspekte spielen bei Möller eine nur untergeordnete Rolle. Vielmehr erprobt er in seinen Zeichnungen eine Verknüpfung mit neuen Bedeutungsebenen und gelangt auf diese Weise zu durchaus singulären Bilderfindungen. Abb. 5 Anton Möller d. Ä., Die Fünf Sinne (Vive memor Christi), 1609, verschollen, Foto: Muzeum Narodowe w Gdańsku (aus: Mielnik 2019).
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1