Der Weltraum ... unendliche Weiten Ein winziger roter Punkt verliert sich auf der weißen Fläche einer Buchseite, nahezu nicht erkennbar. Mit jedem Umblättern der Seiten wird er größer, gewinnt an Struktur, wirkt zuerst wie eine Rosenblüte, verändert die Form und franst zu den Rändern hin aus, bis er in einem strahlenden Lichtkranz zu explodieren scheint und aus seinem Zentrum eine neue, sich konzentrisch ausbreitende rote Fläche entsteht. Die Farbe wechselt von Rot zu Orange. Bilder mit kleinen Punkten und Kreisen, manchmal wild durcheinanderwirbelnd und von wechselnder Dichte und Größe, so als würde man hinein- und herauszoomen, daneben blasenartige Formen, Gewebestrukturen, Strömungen und Bewegungsmuster wie durch Lichtmalerei hervorgebracht, Fraktale und Modelle von Teilchen, die auf elliptischen Bahnen umeinander kreisen, dazwischen Fragmente des HinduGottes Shiva Nataraja in einem Flammenkranz. Gottvater aus Dürers elftem Kupferstich der Apokalypse von 1498, Das Tier aus dem Meer und das Tier aus der Erde, umgeben von Bildern, die wiederum Strukturen, Lichtstrahlen, Feuerschweife, aber auch Billardkugeln mit Queue sowie Puzzleteilchen zeigen. Auf der gegenüberliegenden Seite vier Perspektiven des Foucault’schen Pendels im Pariser Panthéon, flankiert von Petrischalen und weiteren Strukturen. Es folgen Doppelseiten mit noch mehr Strukturbildern, die schließlich durch Bilder von Sternen und Universen abgelöst werden, dazwischen das Atomium in Brüssel, Ansichten eines Newton-Pendels, ein fallender Apfel, Aladins Wunderlampe, eine NASA-Rakete beim Start, Hände, die ein Streichholz anreißen, ein Satellit in der Erdumlaufbahn, Hubschrauberrotoren, eine Sternwarte – und immer wieder Bilder aus verschiedenen Schöpfungsmythologien der Menschheit. So beginnt der in Berlin lebende Comicautor und -zeichner Jens Harder seinen Comic Alpha, den Auftaktband seiner Evolutionstrilogie, ein bildgewaltiges Werk, das in einem visuellen Panoptikum die Geschichte unserer Erde und die Entwicklung menschlicher Zivilisationen vom Urknall bis in die Zukunft vor Augen führen möchte. Bislang sind zwei Teile in drei Bänden erschienen: Der erste Band Alpha ... directions erschien zunächst 2009 in Frankreich (dt. 2010), es folgten Beta ... civilisations volume I (2014) und Beta ... civilasations volume II (2022).1 Jeder Band umfasst gut 350 Seiten, auf die sich jeweils rund 2 000 Bilder verteilen. Alpha umspannt die Evolutionsgeschichte vom Urknall über die erdzeitlichen Entwicklungsstufen bis hin zum Ende der großen Eiszeit und damit einen Zeitraum von 13,8 Milliarden Jahren. Im Vergleich dazu wird die Erzählung in den Folgebänden Beta I und Beta II zunehmend ausdifferenzierter. Zunächst verfolgt Harder, wie sich der Mensch als soziales Wesen aus den Säugetieren herausbildet, wobei er die Fähigkeiten zur Kommunikation und zur Erschaffung und Verwendung von Werkzeugen besonders betont. Bis in die Zeit um Christi Geburt geht er der darauf gründenden Entwicklung komplexer Sozial- und Machtstrukturen nach. Der zweite Teilband reicht bis in die Gegenwart des Jahres 2022 und beleuchtet mit einem zunehmend eurozentrischen Fokus schlaglichtartig Zivilisationen weltweit, deren Ausdehnung durch Kriege, ihre Erfindungen und Entwicklungen auf den Gebieten der Wissenschaft und Kultur, bis hin zu den politischen Verwerfungen und sozialen Umbrüchen im 20. und 21. Jahrhundert. Der geplante Abschlussband Gamma . . . visions schließlich wird in die Zukunft blicken.2 Das Besondere an dem Werk: Harder hat kein Bild selbst erfunden, sondern greift nach eigenen Angaben ausschließlich »auf das gewaltige visuelle Erbe zurück, das zeichnende, malende und fotografierende Vertreter unserer Art in den letzten rund 30 000 Jahren Kulturgeschichte produziert haben«.3 Er adaptiert Vorlagen aus einer breiten Palette visueller Erzeugnisse unterschiedlicher Gattungen, Medien, Zeiten und Kulturen, die er nachzeichnet und neu arrangiert. Neben mittelalterlichen Handschriften, frühneuzeitlichen Tafelgemälden, Ölgemälden des 19. Jahrhunderts, präkolumbianischen Rotuli, chinesischen Malereien aus dem 4./5. Jh. n. Ch. oder antiken Reliefs und Höhlenmalereien finden Fotografien, Stills aus Spiel- und Dokumentarfilmen, Abbildungen aus Zeitschriften und (populär-)wissenschaftlichen Büchern ebenso wie Comicpanels Verwendung. Der holzschnittartige Stil der Zeichnungen Harders sowie die regelmäßig wechselnde monochrome Farbigkeit schafft eine formale Einheit.4 Dadurch entsteht eine einzigartige Erzählung, für die Alpha mehrfach mit renommierten Preisen ausgezeichnet wurde.5 Harder führt den Leser:innen die Weltgeschichte im Spiegel des kollektiven Bildgedächtnisses der Menschheit vor Augen (wenngleich westliche Bilderwelten deutlich überrepräsentiert sind), das historische Vorstellungswelten ebenso umfasst wie mythologische und religiöse Weltbilder. Harder selbst bezeichnet diese »Erzählung über die Evolution – meine Erzählung, mit meinen Schwerpunkten und roten Fäden«6 als subjektiv. Schlaglichtartig und lückenhaft beleuchtet er ausgewählte Momente und Ereignisse der Erd- und Zivilisationsgeschichte, die er mehr assoziativ als deskriptiv umkreist. Zwar hat er die Relevanz der Wissenschaften für sein Projekt wiederholt betont, dennoch scheut er sich nicht, »aus struktu-
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