Leseprobe

Jens Harders Comics zur Evolutions- und Zivilisationsgeschichte 305 q len Darstellungsformen), die im Unterschied zur diskursiven Sprache als präsentativ zu bezeichnen ist. Während die meisten Comics die Sequenzialität der Bilder erzählerisch nutzen, indem motivische oder formale Bezüge zwischen den einzelnen Panels Kohärenz erzeugen (z. B. wiederkehrende Figuren, Wiederholung von Motiven, Darstellung von Handlungsabläufen, unterschiedliche Blickwinkel auf dieselbe Szenerie),18 sind Harders Möglichkeiten, eine zusammenhängende Erzählung zu schaffen, bereits durch die Konzeption, allein auf vorhandenes Material zurückzugreifen, stark eingeschränkt. Weder lässt die Anordnung der Bilder Rückschlüsse auf zeitliche Kausalitäten noch auf handlungsräumliche Kontinuitäten zu. Aufgrund der weitgehend fehlenden logischen Bezugnahmen zwischen den einzelnen Panels sowie der unregelmäßigen, bisweilen geradezu willkürlich anmutenden Seitenarchitektur stellt sich die Frage nach der richtigen Betrachtungsweise. In der westlichen Tradition werden Comics üblicherweise wie Bücher auch von links oben nach rechts unten gelesen. Diese konventionalisierte, aus dem Umgang mit Büchern in gewisser Weise ererbte Leserichtung in sog. Z-Form wird ergänzt durch die holistische Wahrnehmung der Seite oder Doppelseite als Ganzes, wodurch letztlich auch eine andere Form der Informationsaufnahme und inhaltlichen Exploration eines Themas als die linearsprachliche ermöglicht wird.19 Die Beziehung der Panels zueinander müssen die Leser:innen induktiv herstellen.20 Der leere Raum, der die Panels voneinander trennt, ist hierfür zentral, suggeriert er doch, dass zwischen den Bildern mehr passiert, als auf den Bildern gezeigt wird. Um diese Leerstelle zu füllen, greifen Leser:innen sowohl auf motivische Hinweise, die sie in den Bildern zu sehen meinen, als auch auf ihr Weltwissen zurück. So werden auch große räumliche und zeitliche Distanzen bilderzählerisch überbrückbar. Je abstrakter ein Thema ist oder je mehr es auf Spezialwissen gründet, desto herausfordernder wird es für die Leser:innen, desto mehr basiert die Kohärenzerzeugung auf subjektiver Interpretation. Die Narration entfaltet sich in den Bildern also eher zeigend als erzählend,21 eher implizit als explizit, was wiederum auf die präsentative Symbolik alles Visuellen zurückzuführen ist. Darin unterscheiden sich Bilder und Filme ebenso wie Theater und Tanz fundamental von der Diskursivität von Sprache und Schrift. So lassen sich Bilder anders als Texte, Sätze und Wörter nur schwer in Einzelelemente zerlegen, da sie sich nicht nacheinander, sondern gleichzeitig präsentieren und ebenso wahrgenommen werden. Auch haben die identifizierbaren Einzelemente (Striche, Bögen, Farben, Formen etc.) keine von dem Gesamtwerk unabhängige konventionalisierte Eigenbedeutung und werden nicht unter Berücksichtigung von Syntax und Grammatik strukturiert.22 Die Bedeutung eines Bildes realisiert sich also in der sinnlichen Wahrnehmung, insofern sie nicht von ihrer Präsentationsform loszulösen ist. Wie die Einzelelemente inhaltlich besetzt werden, welcher Bedeutung sie damit unterworfen werden, das wiederum wird erst im Kontext des Ganzen ersichtlich. Als prominentes Projekt, das eben diesen Bedeutungsverschiebungen präsentativer Symbolik nachspürte, kann der Bilderatlas von Aby Warburg angeführt werden, der zum Zeitpunkt seines Todes 1929 unvollendet geblieben war.23 Auf großformatigen Tafeln (die Stellwände maßen 1,40 m auf 1,70 m) arrangierte Warburg Reproduktionen von Bildern unterschiedlicher Herkunftskontexte so, dass Zusammenhänge zwischen einzelnen Motiven hergestellt und das vielfach unbewusste Nachleben sowie der Bedeutungswandel antiker Motive und Ausdrucksformeln während der italienischen Renaissance sichtbar wurden. Zwar mag Harders Werk den einen oder die andere an dieses kunst- und kulturhistorische Großprojekt erinnern,24 insofern über weite Teile der Comics ebenfalls »visuelle Cluster« aus nicht zusammengehörigen Bildern erstellt werden. Während der Bildatlas Warburg jedoch primär als Erkenntnisinstrument diente, sind die Bildtafeln in Harders Werk immer auch ins Verhältnis zu der textgeleiteten Erzählung zu setzen, ohne dass sie dieser jedoch unterzuordnen wären. Visualisierungsstrategien: Darstellungsmodi und Rezeptionsmodi Harder nutzt die gestalterische Flexibilität, die ihm das Medium Comic bietet, und exploriert verschiedene Wege der Informationsvermittlung. Er öffnet den Leser:innen variable Zugriffswege auf das Dargestellte, wodurch auch Querverbindungen sichtbar werden können, die allein sprachlich vielleicht nicht artikulierbar

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