Leseprobe

20 von Momentaufnahmen. Filmisch gesprochen, verweigert Keichel konsequent die Totale und setzt stattdessen auf eine Vielzahl von meist angeschnittenen Nahaufnahmen. Andreas Prinzing spricht diesbezüglich von einer Betonung der »Selektivität des Blickwinkels. […] Die wenigsten Kompositionen erfassen ihren Gegenstand zentral in vollem Umfang: meist fluchten Perspektivlinien aus dem Bildfeld hinaus und verweisen auf ein Außerhalb des Bildes.«8 Ansichten der Klassenzimmer, des Mobiliars und der Tafel treten neben Porträts, auf denen die Dargestellten jedoch, wenn überhaupt, nur ansatzweise zu erkennen sind. Mal sehen wir nicht mehr als einzelne Körperteile wie eine Hand oder einen Arm. Ein andermal wenden sich die Protagonist*innen von der Kamera ab, oder ihr Gesicht wird von einer OP-Maske verdeckt. Hinzu kommen Aufnahmen von handschriftlichen Notizen der Schüler*innen und Gegenständen des täglichen Gebrauchs wie Getränkeflaschen und -dosen, Smartphones und dergleichen. Keichel nimmt bewusst »Details der Kleidung, Kosmetik und Produktwelt der Schüler*innen« in den Blick.9 In einem Interview begründet sie diese Motivwahl damit, dass die Markennamen und Logos als »Zeichen […] für soziale Zugehörigkeit« stehen.10 Der Einsatz von Blitzlicht, die Entscheidung für Nahaufnahmen und die Konzentration auf expressive Gesten lassen die dokumentarisch intendierten Bilder inszeniert und theatral – wie Lebende Bilder – erscheinen, wodurch die Fotografin Distanz bewirkt. Zugleich betont sie die Ästhetik der Oberflächen, deren Farben und geometrische Formen. Diesem demonstrativen Gestus eigentümlich ist auch die ausgeprägte Reduktion der Bilder oder anders gesagt: deren Konzentration auf wenige, dadurch stark in den Vordergrund gerückte Bildelemente. So werden die Motive zu Symbolen erhoben. Sie stehen für etwas: zum Beispiel für die Kühle und Lieblosigkeit der Klassenräume oder für die Macht sozialer Zuschreibungen. Indem sie ihre Gesten und Notizen wiedergibt, bekommen die Dargestellten gewissermaßen eine Stimme. Dieselbe Absicht verfolgt Keichel mit einem In an interview, she explains the selection of this motif by saying that the brand names and logos are “signs […] of social belonging.”10 The use of flash, the decision to take close-ups and the focus on expressive gestures make the documentary-style images appear staged and theatrical – like living pictures – which allows the photographer to create distance. She simultaneously places the emphasis on the aesthetics of the surfaces, their colours and geometric shapes. This demonstrative gesture is also characterized by the pronounced reduction of the images or, in other words, their concentration on a few pictorial elements, which are thus brought to the fore. Keichel achieves different effects with this stylistic device: First, the respective motifs are elevated to symbols. They stand for something: for example, for the coolness and unkindness of the classrooms or for the power of social attributions. Secondly, the illusion of immediacy is created: those depicted are given a voice. Their gestures and notes are reproduced verbatim, so to speak. Keichel pursues the same aim with a video belonging to the group of works entitled Fragmente sozialer Realitäten [Fragments of Social Realities], 2023 (black and white; total length: 1:15:49 h), which consists of six student interviews in total. Some of these photos for this series (School) were taken during the Covid lockdowns. In addition to the general social reality of an urban secondary school in Saxony in the early 2020s, they also depict this particular historical moment, which shaped the everyday lives of all people, especially young people, for several years and whose after-effects are still felt today.

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