Leseprobe

25 die Geschichte von C zu lesen, erzählt aus der Rückschau von einem anonymen IchErzähler, der im Prolog angibt, ein paar Monate nach dessen Ankunft in Leipzig erstmals mit ihm in Kontakt gekommen zu sein. Anschließend hätten die beiden über die Dauer eines Jahres Textnachrichten ausgetauscht. Die Geschehnisse dieser zwölf Monate werden vom Ich-Erzähler chronologisch in acht Episoden rekapituliert. Auf dem zweiten Bildschirm sind Cs Videoaufnahmen zu sehen: insgesamt acht in statischen Einstellungen gedrehte Sequenzen, je eine zu jeder Episode der Rahmenhandlung – Detailaufnahmen von Lärmschutzwänden, Umspannwerken, Vertriebslagern, Brücken, Hochspannungsmasten und Windrädern in der Leipziger Peripherie, deren Anstriche an die Farben der sie umgebenden Natur angepasst sind. Auf der Tonspur vermitteln Aufnahmen der Umgebungsgeräusche am jeweiligen Drehort akustische Eindrücke vom Geschehen in- und außerhalb des Bildausschnitts. Auf dem dritten Monitor sind Notizen zu lesen, die C vermeintlich während seiner visuellen kulturgeografischen Feldforschungen angefertigt hat. Die Geschichte von Cs Meisterschülerarbeit wird hier also, verglichen mit der Rahmenhandlung, aus einer zweiten, scheinbar unvermittelten Perspektive (nämlich der des Helden) und auf einer anderen Zeitebene (nämlich annähernd synchron mit dem Ablauf der Geschehnisse) erzählt. Wiedergegeben sind diese Notizen in Form eines screencast von einem Kommandozeilen-Texteditor – Ausdruck der digitalen Welt, in welcher der Protagonist die meiste Zeit verbringt. Durch die Rahmenhandlung etabliert der Autor den fiktionalen Charakter C also als Urheber der Videoaufnahmen. Wir sehen die Landschaft gewissermaßen durch die Augen der Figur. Auf dieser Grundlage kann Takkides die Bilder mit dem Bericht des Ich-Erzählers und den Feldnotizen Cs überblenden und ihnen so bestimmte Bedeutungen einschreiben. Jede der drei Erzählungen (die Videosequenzen, die Rahmenhandlung und die schriftlichen Notizen Cs) erfüllt in diesem komplexen Gebilde spezifische Funktionen. Durch den anonymen Ich-Erzähler ist es dem Autor zum Beispiel möglich, Informationen über Cs Biografie und Alltagsleben einzuflechten. video recordings. We regard the landscape through this character’s eyes, as it were. This foundation allows Takkides to superimpose the shots with the protagonist’s report and C’s field notes, conveying them with specific meanings. Each of the three narratives (video sequences, frame story, and C’s written notes) assumes a specific function in this complex construction. For example, the anonymous first-person narrator enables the author to convey information about C’s biography and everyday life. The author interweaves impressions from nature with his protagonist’s interior life through the interplay between the two narrative levels (C’s documents, video recordings and field notes on the one hand, the first-person narrator’s report, on the other hand). Referring to the romantic, ultimately ancient topos of life journey, the narrator describes how C increasingly loses his – interior as well as exterior – sense of direction. In the final episode of the frame narrative (“Late January”), the narrator reports: “I had become concerned for C by this time, as he had withdrawn from social contact and had removed himself from all online means of communication. He told me he had dropped out of the academy. During the lockdowns that were imposed in the months after our last conversation, we lost all contact. He had been so efficient in removing himself from digital space that, with the introduction of social-distancing regulations, he seemed to vanish completely.” This corresponds with the final lines of the diary, where C describes nearly losing his bearings in the encroaching darkness. Stephan Takkides Naturalization (Still) 2021

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