Leseprobe

1930 – 1935: Hanna Stirnemann in Jena 51 Aufgrund von Sparmaßnahmen der Stadt wird Helene Marcus jedoch zum 31. Dezember 1931 entlassen.18 Welche Lücke die Sekretärin hinterließ, verdeutlicht deren Aufgabenrepertoire, das über längere Zeit von Stirnemann abgefangen werden muss: Neben der Korrespondenz (das Briefbuch verzeichnet 1926 noch 341 Positionen, 1929 bereits 1064, 1931/32 1500 Nummern)19 obliegen ihr die Akten- und Buchführung, die Inventarisierung der Neuzugänge, die Verwaltung der Bücherei, die Durchsicht der Zeitungen und Zeitschriften, die Durchsicht von Auktionskatalogen in Hinblick auf mögliche Erwerbungen, die Pflege des Fotoarchivs, die Erstellung von Beschriftungen und Plakaten, die Erteilung von Auskünften, die Bearbeitung des Leihverkehrs sowie bei Bedarf die Veranstaltung von Führungen durch das Museum.20 Das Maß an Selbstausbeutung, das für Stirnemanns frühe Berufsjahre in Jena kennzeichnend ist, wird nicht zuletzt an den Bemerkungen Wilhelm Wagenfelds deutlich, der dem Oldenburger Museumsdirektor im September 1930 aus Weimar berichtet: »hanna ist seit langer zeit in jena wie durch eine chinesische mauer von uns getrennt. sie wollte längst einmal kommen.«21 Nach Marcus’ Entlassung ist die Museumsleiterin mit dem Museumswart, für den sie aufgrund seines umfangreichen Aufgabenspektrums eine Höhergruppierung22 erreicht und dessen Frau das Museumsteam als Reinigungskraft unterstützt,23 weitestgehend auf sich gestellt. Ab 1934 erhält sie erneut Unterstützung durch eine Sekretärin. Offenbar erkennt die Stadtverwaltung damit an, dass die Entlastung dringend erforderlich ist: In der Planung für 1935 ist das Stundenkontingent der Büroangestellten mit 48 (statt bisher 30) Wochenstunden verzeichnet.24 Die kurzzeitige Unterstützung durch die Volontärin Irmgard Koska (1912–1945) im Jahr 1932 hat – soweit wir heute sehen können – keine nennenswerten Spuren hinterlassen.25 Stirnemann gelingt es stattdessen, den wesentlich älteren Kunsthistoriker Walter Thomae (1875–1949),26 ehemals wohl zeitweise Assistent von Paul Weber, in ihre Arbeit einzubeziehen. Er hält u. a. Vorträge im Museum. Auch der Förderverein des Museums, der bereits von Paul Weber gegründet worden war und 1931 163 Mitglieder zählt, unterstützt Stirnemanns Arbeit.27 Von der Ernennung Stirnemanns als hauptamtliche Museumsdirektorin berichtete als erstes Medium das Jenaer Volksblatt: »Der Jenaer Stadtrat wählte am Donnerstag abend die bisherige Mitarbeiterin des verstorbenen Professors Weber, Dr. Hanna Stirnemann, zur Leiterin des Stadtmuseums.«28 Nach kurzer Zeit wurde die Nachricht auch im gesamten Deutschen Reich verbreitet:29 »Eine Frau als Museumsdirektorin«, meldete die Zeitschrift des Bundes Deutscher Frauenvereine Die Frau im Mai 1930 die sozialgeschichtliche Sensation.30 Sowohl dem Bonner-General-Anzeiger, dem Münchner Illustrierten Sonntag als auch der Illustrierten Die Woche war die Nachricht eine Meldung mit Portraitfoto wert: »Zur Museumsdirektorin in Jena wurde Frl. Hanna Stirnemann ernannt. Sie ist die erste Frau, die in Deutschland einen solchen Posten bekleidet.«31 Auch in der Werkbund-Zeitschrift Die Form erschien unter der Rubrik »Von unseren Mitgliedern« am 1. Mai 1930 ein Hinweis auf Stirnemanns Berufung.32

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