Die Stadt Weißenfels (heute zu Sachsen-Anhalt gehörend), mit dem repräsentativen Schloss Neu-Augustusburg, das lange Residenz der Herzöge von Sachsen-Weißenfels gewesen war, liegt rund 30 Kilometer südlich bzw. südwestlich von Halle (Saale) und Leipzig. In der kleinen Stadt an der Saale, die ein Zentrum für die Verarbeitung hochwertiger Eichhörnchen-Pelze war, lebten um 1900 rund 28000 Einwohner. Johanna Margarete Luise Stirnemann wird hier am 12. Oktober 1899 als älteste Tochter von Albert Stirnemann und dessen aus Hanau stammender Ehefrau Margarethe (geb. Elsaß) geboren.1 Albert Stirnemann besitzt in der Jüdenstraße 17, im Zentrum der Stadt, ein Geschäft für Eisenwaren, Haus- und Küchengeräte, welches der Familie ein gutes Einkommen und der Tochter eine höhere Bildung ermöglicht. Von 1906 bis 1916 besucht sie das Lyzeum in Weißenfels. Nach Unterbrechung im Ersten Weltkrieg setzt sie die Schulbildung von 1919 bis 1922 an der Oberrealschule von Weißenfels fort, die sie zu Ostern 1922 als eine der ersten weiblichen Absolventinnen mit dem Abitur abschließt.2 Die auf männliche Absolventen ausgelegten Zeugnisvordrucke belegen ihren zu dieser Zeit noch ungewöhnlichen Lebensweg. Unweit ihrer Geburtsstadt, in die Stirnemann während der Semesterferien immer wieder zurückkehrt,3 schreibt sich Stirnemann am 2. Mai 1922 zunächst für das Studium der Philosophie an der Philosophischen Fakultät der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg in Halle (Saale) ein.4 Streichungen und Ergänzungen im Anmeldebuch sowie Stirnemanns Aufzeichnungen belegen den baldigen Wechsel des Studienschwerpunkts hin zur Kunstgeschichte. Sie belegt darüber hinaus Kurse in Literaturwissenschaften, Psychologie und Pädagogik.5 Selbstbewusst gibt Stirnemann als Zweck des Studiums früh schon die »Doktorpromotion« an.6 Zeitweise gehört sie dem Akademischen Studentenausschuss (Asta) an.7 Im ersten Semester besucht Stirnemann mehrere Kurse zu »Deutscher Kunst im Mittelalter« – darunter eine Veranstaltung bei Paul Frankl (1878–1962), ihrem späteren Doktorvater.8 Bereits im zweiten Semester belegt sie drei von 15 Veranstaltungen bei Frankl und eine bei dem Archäologen Georg Karo (1872–1963), der später Zweitgutachter ihrer Doktorarbeit sein wird. Während ihrer ersten Semester belegt sie Veranstaltungen zur Philosophie, Literatur und Psychologie. Bald zeichnet sich, sowohl in der Wahl der Vorlesungen als auch der praktischen Übungen, ihre Fokussierung auf Kunstgeschichte ab. Inhaltlich ist ein Großteil der Veranstaltungen auf die italienische, französische, niederländische und deutsche Kunst vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert ausgerichtet. Kurt Gerstenbergs (1886–1968) Vorlesung über die Deutsch-Römer des 19. Jahrhunderts bietet einen der weitesten Vorstöße in die Gegenwart. Die Semestergebühren liegen im November 1923 – auf dem Höhepunkt der Inflation – bei 99 Milliarden Mark.9 Das freundschaftliche Netzwerk zu ihren Kommilitonen, das sie in diesen Jahren ausbildet, insbesondere den Schülern des 1921 an die Universität in Halle berufenen und 1933 entlassenen Professors der Kunstgeschichte Paul Frankl, wird ihren weiteren Lebensweg prägen. Dem Kreis ihrer Kommilitonen gehören u. a. Werner Meinhof, Walter Dieck, Walter Timmling, Hans Volhard,10 Hellmuth Allwill Fritzsche und Heinz Köhn an, mit denen Stirnemann in den folgenden Jahren in unterschiedlichsten Konstellationen verbunden bleiben wird.
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