Leseprobe

1899 – 1927: Elternhaus, Schulbildung und Studium 13 Ihr Studium in Halle unterbricht sie 1924/25 für ein Semester an der Universität Wien, wo sie Vorlesungen bei den konkurrierenden Hauptvertretern der sog. Wiener Schule, Julius von Schlosser (1866–1938) und Josef Strzygowski (1862–1941), hört.11 Bei Julius von Schlosser belegt sie die Vorlesung zur »Italienischen Kunstgeschichte«, »Praktische Übungen« sowie »Übungen an österreichischen Kunstdenkmälern«. Bei Strzygowski hört sie die Vorlesung »Planmäßige Kunstbetrachtung«. Darüber hinaus besucht sie in Wien Max Eislers (1881–1937) Vorlesungen »Der Künstler als Kritiker« und »Von Goya bis Gogh«. Bei Karl Swoboda (1889–1977), einem Schüler Schlossers, besucht sie eine Veranstaltung zur »Geschichte der gotischen Plastik und Malerei«. Ferner hört Stirnemann bei dem Philosophen Moritz Schlick (1882–1936) eine Vorlesung »Systeme der großen Denker«. Schließlich besucht sie eine archäologische Vorlesung zum Thema »Meisterwerke der griechischen Plastik«. Alles in allem umfasst ihr Studium 16 Wochenstunden – ein volles Programm, vorwiegend der älteren Kunstgeschichte gewidmet, das sich in ihre halleschen Studienschwerpunkte fügt. Während ihres Studiums verfasst Stirnemann auch Gedichte, die das melancholische Pathos der Jugendlichkeit in sich tragen. Als Beispiel sei hier eines der von dem Dessauer Historiker Bernd Nowack wiederentdeckten Gedichte Stirnemanns zitiert: »Sprich nicht von Untergang und nahem Ende, wenn nächstens die Lemuren geistern. Der Engel wacht! Und seine Flammenhände, die furchtlos das Gezücht der Vipern meistern, beschirmen Dich. Es bleibt gebannt. Von seinem Blick ward der Skorpion gebrannt, und Menschen, die in seinem Flügelrauschen der Atem Gottes anweht, sie vertauschen das Nessushemd der Angst mit kühler Seide. Sie ruhn getrost mit Herden auf der Weide, kein Wolf kann reißen sie in dieser Nacht, vertan, verloren ist der Mahre Macht! [. . .].«12 Stirnemanns poetische Versuche belegen ihr ausgeprägtes Interesse für Sprache und Literatur. Unter den wenigen Büchern, die sich aus ihrer Studienzeit erhalten haben, zählt die bei Paul Cassirer erschienene Erstausgabe der »Theorie des Romans« von Georg Lukács, mit der sich Stirnemann 1925 auseinandergesetzt hat. In ihrer beruflichen Laufbahn wird das Verfassen von kunstwissenschaftlichen Texten, Ausstellungsberichten und Rezensionen zu einem roten Faden ihrer Arbeit. Während ihres Studiums belegt sie über fünf Semester Abendkurse in der Buchbindeklasse von Otto Pfaff (1896–1983) an der Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein in Halle (Saale).13 An der wegweisend modernen Kunstgewer-

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