Leseprobe

Bilder der 1920er Jahre Pictures from the 1920s

Bilder der 1920er Jahre aus dem LindenauMuseum Altenburg und dem Museum für Neue Kunst, Freiburg Pictures of the 1920s from the LindenauMuseum Altenburg and the Museum für Neue Kunst, Freiburg

6 VORWORT FOREWORD Christine Litz Roland Krischke 8 EINLEITUNG INTRODUCTION Isabel Herda Benjamin Rux 10 MODERN TIMES – SZENEN DER WEIMARER REPUBLIK MODERN TIMES – SCENES FROM THE WEIMAR REPUBLIC Harald Jähner 26 NEUSTART DER MODERNE – FÜR EINEN WECHSEL DER PERSPEKTIVE REBOOTING MODERNITY – FOR A CHANGE OF PERSPECTIVE Daniela Danz 34 ARM UND REICH THE RICH AND THE POOR 80 AVANTGARDE UND ABGRUND – DIE ZWIESPÄLTIGE MODERNE DER 1920ER JAHRE THE AVANT-GARDE AND ABYSS – THE AMBIVALENT MODERNITY OF THE 1920s Lisa Bauer-Zhao 90 DER KRIEG HÖRT NICHT AUF THE WAR IS STILL GOING ON 102 REVOLUTION! REVOLUTION! 120 ES LEBE DIE WELTREVOLUTION! KÜNSTLER*INNEN ZWISCHEN POLITIK UND KUNST NACH DEM ERSTEN WELTKRIEG LONG LIVE WORLD REVOLUTION! ARTISTS IN THE FLUX OF POLITICS AND ART AFTER THE FIRST WORLD WAR Benjamin Rux 130 EIN NEUES LEBENSGEFÜHL A NEW ATTITUDE TO LIFE

146 GESTERN, HEUTE, MORGEN – KÜNSTLERIN- UND FRAUSEIN IN DEN 1920ER JAHREN YESTERDAY, TODAY, TOMORROW – BEING AN ARTIST AND BEING A WOMAN IN THE 1 920S Isabel Herda 156 IM CAFÉ IN THE CAFÉ 168 VON ALTENBURG WIRD MAN NOCH VIEL HÖREN! EIN GESPRÄCH MIT ROLAND KRISCHKE WE’LL BE HEARING A LOT MORE ABOUT ALTENBURG! AN INTERVIEW WITH ROLAND KRISCHKE 176 ARBEIT, KRIEG, PROTEST – ZEITGENÖSSISCHE INTERVENTIONEN WORK, WAR, PROTEST – CONTEMPORARY INTERVENTIONS 186 VERZEICHNIS DER AUSGESTELLTEN WERKE LIST OF EXHIBITED WORKS 190 AUTOR*INNEN AUTHORS 191 BILDNACHWEIS IMAGE CREDITS 192 IMPRESSUM COLOPHON

Harald Jähner MODERN TIMES SZENEN DER WEIMARER REPUBLIK MODERN TIMES SCENES FROM THE WEIMAR REPUBLIC

12 Was zwischen 1918 und 1933 geschah, reicht für eine ganze Epoche – und für immer neue Bücher, die die kurze Geschichte der ersten deutschen Demokratie zu erzählen und ihre turbulenten Stimmungsumschwünge zu ergründen versuchen. Vieles, was uns heute ausmacht, wurde damals zum ersten Mal gedacht; was uns heute noch als modern erscheint, wurde damals entwickelt. Aber so nah uns diese Gesellschaft in vieler Hinsicht erscheint, so fremd ist sie uns zum Glück in anderer. Eingerahmt war sie von Gewalt: Hervorgegangen aus dem verlorenen Krieg, endete sie mit der Perspektive auf einen neuen, befeuert von der Unlust, die inneren Konflikte friedlich auszutragen. DIE ANFÄNGE: HAT DIE REVOLUTION GESIEGT ODER GERADE ERST BEGONNEN? Das Neue lag am 9. November 1918 zum Greifen nah. Erschütternde Meldungen waren zu hören, von denen viele nicht wussten, ob sie eher Gutes oder Schlechtes bedeuteten. Also strömte man auf die Straßen und Plätze, um sich auszutauschen und Witterung zu nehmen. Das Kaiserreich war am Ende, fast alle Fronten des Weltkriegs aufgegeben oder zusammengebrochen. Die Frontsoldaten hatten ihre Offiziere entwaffnet und ihnen die Schulterstücke und Ehrenzeichen abgerissen. Nun zogen sie auf eigene Faust nach Hause oder warteten auf einen irgendwie geordneten Abmarsch. Die Matrosen von Kiel hatten schon vor Tagen offen gemeutert und sich geweigert, in eine aussichtslose Seeschlacht zu ziehen. Die Unruhe hatte sich über viele Städte in ganz Deutschland ausgebreitet. Überall entstanden Arbeiter- und Soldatenräte, die bereitstanden, die alten Mächte zu ersetzen und in den Gemeinden erstmals demokratische Wahlen abzuhalten. Der Kaiser war unterdessen auf der Flucht nach Holland. In dieser schillernden Atmosphäre aus Endzeit- und Anfangsstimmung kam in der Reichshauptstadt eine gewaltige Menschenmenge zwischen Schloss und Reichstagsgebäude zusammen und wartete, was passieren würde. Sie einte die Gewissheit, etwas Großes, etwas gewaltig Brodelndes zu erleben. Man fühlte sich an der Schwelle einer neuen Zeit, von der What happened between 1918 and 1933 is enough to fill an entire epoch – indeed, more than ample for ever-new books attempting to tell the short history of the first German democracy and to explore the volatile mood swings that prevailed at the time. Much of what characterises us today was first conceived back then; what still appears modern to us today was also fostered back then. But as familiar as this society seems to us in many respects, it is, thankfully, alien to us in others. It was an era bookended by violence: it emerged from a lost war and culminated in the prospect of a new one, fuelled throughout by an obdurate reluctance to resolve internal conflicts peacefully. THE STARTING POINT: HAS THE REVOLUTION TRIUMPHED OR HAS IT ONLY JUST BEGUN? The sense of something new was most definitely in the air on 9 November 1918. Shocking reports circulated and many were unable to judge whether the portents were for good or bad. As a result, people flocked to the streets and squares to exchange views and see which way the wind was blowing. The Empire was on its knees, almost all of the front lines in the war had been abandoned or had crumbled. The soldiers at the front had disarmed their officers and ripped off their epaulettes and medals in disgust. They now made their own way home or awaited some kind of organised evacuation. Sailors in Kiel had already openly mutinied days before and refused to enter into a futile sea battle against the British fleet. Unrest had spread to many cities throughout Germany. Workers’ and soldiers’ councils sprang up everywhere, ready and willing to replace the old regime and hold democratic elections in the municipalities for the first time. Meanwhile, the Kaiser was on the run to Holland. In this heady atmosphere of end times and a new beginning, a huge crowd gathered in the imperial capital between the Palace and the Reichstag building and waited to see what would happen next. They were united by the certainty that they were about to experience something huge, something momentous coming to the boil. They felt they were on the threshold of a new era, although nobody knew what it would have in store. Germany without a Kaiser – for many, this was an inconceivable, intimidating idea. Who would now assume responsibility? In the end it was a certain Philipp Scheidemann – a Social Democrat and, for barely five weeks, Secretary of State in a hastily-assembled interim government after the collapse – who looked out of the window in the Reichstag after lunch and surveyed the gathered masses, and who recognised the favourable, almost compelling moment and made history. He stepped onto a balcony and proclaimed the

13 niemand wusste, was sie bringen würde. Deutschland ohne Kaiser – für viele eine unfassbare, beängstigende Vorstellung. Wer würde jetzt das Zepter in die Hand nehmen? Es war ein gewisser Philipp Scheidemann, Sozialdemokrat, seit knapp fünf Wochen Staatssekretär in einer hastig zusammengestellten Zusammenbruchsregierung, der im Reichstag nach dem Mittagessen aus dem Fenster auf die wartende Masse schaute, den günstigen, geradezu zwingenden Augenblick erkannte und Geschichte schrieb. Er trat auf einen Balkon und rief, in dieser Form unabgesprochen, die Republik aus: »Das Volk hat auf ganzer Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen [...] die Hohenzollern haben abgedankt. Der Abgeordnete Ebert ist zum Reichskanzler ausgerufen und damit beauftragt worden, eine neue Regierung zusammenzustellen.« Nun komme es darauf an, so Scheidemann weiter, für Ruhe, Ordnung und Sicherheit zu sorgen, damit die Deutschen in alle Zukunft stolz sein könnten auf diesen Tag. Nur zwei Stunden danach proklamierte Karl Liebknecht, der spätere Mitgründer der Kommunistischen Partei, die Republik ein zweites Mal – vom anderen Ende der Prachtstraße Unter den Linden aus, von einem Balkon des Stadtschlosses. Diese doppelte Proklamation war mehr als ein ungünstiges Omen. Liebknecht legte den Keim für einen blutigen Zwist, der die eben erst geborene Republik für Jahre erschüttern sollte. Während die Sozialdemokrat*innen die Revolution für siegreich beendet hielten und für einen parlamentarisch gezähmten Kapitalismus mit gerechteren Verteilungsstrukturen plädierten, kämpften die Kommunist*innen für die Fortsetzung der Revolution, die gerade erst begonnen habe. Wohl wissend, dass sie nur eine Minderheit der Arbeiter*innen hinter sich hatten, warben Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg für die gewaltsame Etablierung der »Herrschaft des Proletariats« – selbst für die Arbeiterschaft allerdings in ihrer großen Mehrheit eine Horrorvorstellung. DER KRIEG HÖRT NICHT AUF Noch größere Gefahr drohte von rechts. Unglücklicherweise war die Revolution eine Schwester des verlorenen Krieges. Die Niederlage sei, so verbreitete es die Heeresleitung wider besseren Wissens, nicht vom Feind, sondern vom eigenen Volk herbeigeführt worden. Nicht wenigen Menschen schien das plausibel. Denn dass der Krieg wirklich verloren war, Republic in an impromptu address that had not been previously discussed in that form: “We have triumphed all along the line; the old and rotten has collapsed. Long live the new! Long live the German Republic. [...] Ebert has been appointed Reich Chancellor [...]. The Hohenzollerns have abdicated.” Scheidemann went on to say that it was now imperative to consolidate peace, order and security so that the German people could be proud of this victory in the future. Two hours later, Karl Liebknecht, the future co-founder of the German Communist Party (KPD), proclaimed the Republic for a second time – from a balcony of the City Palace at the other end of the prestigious Unter den Linden boulevard. The fact of this dual proclamation was more than just an unfavourable omen. Liebknecht sowed the seeds of a bloody conflict that would rock the fledgling Republic for years to come. While the Social Democrats considered the Revolution to be victorious and argued in favour of capitalism regulated by parliament with more egalitarian distribution channels, the Communists fought for its continuation, which, in their view, had only just begun. Well aware that they only had a minority of workers behind them, Karl Liebknecht and Rosa Luxemburg still campaigned for the violent establishment of the ‘Rule of the Proletariat’ – itself a horror scenario for the overwhelming majority of the workers. 1 Georg Pahl Bettelnder Kriegsinvalide 1923 Georg Pahl A begging, disabled war veteran 1923

14 wurde der Bevölkerung weit weniger deutlich als in den zerbombten Städten nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Urszene verlorener Kriege, der Einmarsch des Feindes ins eigene Land, war ausgeblieben. Bis auf einige Orte Ostpreußens war der Krieg eine ferne Angelegenheit geblieben. Auch ein Teil der Soldaten hielt sich trotz der zermürbenden Erfahrungen im Stellungskrieg und der unvorstellbaren Verluste für unbesiegt. Zusammengebrochen sei die Front nur wegen der meuternden Kameraden und des ausbleibenden Nachschubs, den die streikenden Arbeiter*innen sabotiert hätten. In ihren Augen waren die Novemberrevolutionär*innen und die aus ihr hervorgegangene Regierung Vaterlandsverräter*innen, die zu verantworten hätten, dass der Tod ihrer nach Millionen zählenden Kameraden nunmehr sinnlos geworden sei. Der Hass, mit der diese noch immer kampfbereite Soldateska nach Hause zurückkehrte, war grenzenlos. Das pazifistische Deutschland war nicht länger das ihre. Wo immer sie konnten, machten sie ihrer Wut auf die untreue Heimat schon auf dem Heimweg in kleineren Scharmützeln mit der Polizei Luft. Viele, die die Materialschlachten des Krieges als »eisenbeladene Tagelöhner des Todes«1 erlebt hatten, waren für ein bürgerliches Leben in einem zivilen Alltag verloren. Zurückgekehrt in die Städte ihrer Jugend, gingen die Überlebenden darin umher wie Fremde, schrieb Erich Maria Remarque und definierte eine »verlorene Generation« der Frontsoldaten: »Gefühllose Tote, die durch einen Trick, einen gefährlichen Zauber noch laufen und töten können.«2 Ausgerechnet diesen erbittertsten Feinden der Republik bot Friedrich Ebert eine Lizenz zum Töten, indem er in seiner Angst vor den umsturzbereiten Kommunist*innen die Reichswehr zur Hilfe im Kampf für Ruhe und Ordnung aufforderte. Diese stellte sogenannte Freikorps aus heimgekehrten Soldaten zusammen, um sie gegen die Streiks und Aufstände der Spartakist*innen ins Feld zu führen. Haarsträubende Gewaltexzesse schockierten die Republik, denen oftmals gänzlich Unbeteiligte zum Opfer fielen. Ohne ersichtlichen Anlass beschossen am 6. Dezember 1918 Gardefüsiliere die Berliner Kreuzung Invaliden-, Ecke Chausseestraße und nahmen eine Straßenbahn der Linie 32 unter Feuer. Zwölf Tote blieben zurück, darunter als jüngstes Opfer ein 16-jähriges Mädchen. Auch die Niederschlagung der Münchner Räterepublik Ende April 1919 nahmen die Freikorps zum willkommenen Anlass, wahllos auf Zivilist*innen zu schießen, die sich auf den Straßen blicken ließen. Die Streiks im Ruhrgebiet wurden mit unfassbarer Brutalität beendet. Zu spät dämmerte es den Sozialdemokrat*innen, dass sie die brutalsten Feinde der Republik zu deren Hütern gemacht hatten. Dabei saß die SPD, was 2 Hyperinflation: Geldscheinbündel sind nur mehr als Bauklötze zu verwenden Hyperinflation: bundles of bank notes are henceforward only useful as building bricks THE WAR IS STILL GOING ON An even greater threat loomed from the right. Alas, the Revolution was a bastard sibling of the lost war. According to the German Army High Command, defeat had not been at the hands of the enemy but perpetrated by their own people. This seemed plausible to many. The fact that the war had really been lost was far less apparent to the people at the time, as opposed to the manifest physical evidence of the bombed and devastated cities after the Second World War. The typical and palpable scenario of a lost war – the invasion of one’s own country by the enemy – had not materialised. Apart from a few places in East Prussia, the war had largely remained a remote affair, the not inconsiderable hardship and privations at home notwithstanding. In spite of the harrowing experiences in the trenches and the unimaginable losses sustained, some of the soldiers considered themselves undefeated. The front had allegedly only collapsed because of mutinous comrades and the lack of supplies, which militant workers on the homefront had sabotaged through their strike action. In their eyes, the November revolutionaries and the government that emerged from their ranks were nothing less than traitors to the Fatherland and responsible for the fact that the deaths of their comrades, numbered in the millions, now seemed like a pointless sacrifice.

15 ihre Zustimmungswerte betraf, recht fest im Sattel. Als im Januar 1919 das erste Mal gewählt wurde – mit einer für heutige Verhältnisse traumhaften Wahlbeteiligung von 83 Prozent –, war die SPD mit fast 38 Prozent der Stimmen stärkste Kraft. Ihre linke Abspaltung USPD erhielt 7,6 Prozent. Zweitstärkste Kraft wurden die liberalen Parteien mit zusammen knapp 23 Prozent. Die konservative DNVP erhielt rund 10 Prozent. Die KPD war gar nicht erst angetreten, das Ergebnis wäre zu kümmerlich ausgefallen. Das sah nach rundum stabilen Verhältnissen aus. Als das frisch gewählte Parlament am 6. Februar erstmals zusammentrat, musste es allerdings in Weimar im Nationaltheater tagen – in Berlin waren die Verhältnisse wieder einmal zu unsicher. Das hastig improvisierte Exil Weimar gab der Republik ihren Namen. DAS GELD STIRBT Verblüffend rasch ging es aufwärts. Die regierende Sozialdemokratie schnürte, wie man es heute nennen würde, ein Sozialpaket nach dem anderen, um die Lage zu beruhigen und ihren Wähler*innen zu zeigen, dass sich die Revolution gelohnt hatte. Die zunächst nur leichte Inflation senkte für das Ausland den Preis deutscher Waren, der Export stieg und die Arbeitslosenzahlen sanken. Das ging zwei Jahre lang gut, dann nahm der Wertverfall des Geldes Fahrt auf. Das Attentat auf Walther Rathenau, begangen von Rechtsradikalen, mehrte die Zweifel ausländischer Investoren an der Stabilität Deutschlands. Ihre Gelder blieben aus, der Staat verschuldete sich immer mehr. Als im Januar 1923 die französische Armee das Ruhrgebiet besetzte, weil die deutsche Regierung mit der Zahlung von Reparationsleistungen säumig geblieben war, trat fast die gesamte Kohle- und Stahlindustrie des Reviers in den Streik. Monatelang übernahm die Berliner Regierung die Gehälter der Arbeiter*innen und die Verdienstausfälle der Unternehmer*innen. Finanziert wurde der patriotische Widerstandsakt durch die Arbeit der Druckerpressen – das nötige Geld wurde von der Regierung einfach nachgedruckt. Die umlaufende Geldmenge stieg rasant, der Wert der einzelnen Reichsmark fiel im gleichen Tempo. Mit den Folgen, die heute logisch erscheinen, hatte damals niemand gerechnet, zumindest nicht in dieser verheerenden Intensität. Ein Ei kostete Mitte November 1922 bereits horrende 60 Reichsmark, zehn Monate später, am 15. September 1923, waren es 1,3 Millionen Mark. Am 20. Oktober desselben Jahres musste man für ein Ei bereits 160 Millionen Mark bezahlen. Bewahrte man es nur fünf Tage auf, konnte man es für eine Billion Mark wieder verkaufen, vorausStill armed and ready for combat, this unruly band of soldiers returned home harbouring immeasurable feelings of hatred. A pacifist Germany was profoundly alien to them. Wherever they could, they vented their spleen on their disloyal homeland in minor skirmishes with the police on the way back. Many of those who had experienced the attrition warfare on the front lines as the “iron-laden journeymen of Death”1 were irredeemably lost to a bourgeois life in ‘civvy street’. Returning to the home towns and cities of their youth, the survivors roamed around like revenant strangers, as Erich Maria Remarque observed, defining a ‘lost generation’ of front-line soldiers as “dead men with no feelings, who are able by some trick, some dangerous magic, to keep on running and keep on killing”.2 Friedrich Ebert offered these most embittered enemies of the Republic, of all people, a licence to kill by calling on the Reichswehr (Reich Defence Force) to help in the struggle for peace and order in his fear of the Communists, who were poised to overthrow him. The army assembled so-called Freikorps units (paramilitary forces, lit. ‘Free Corps’) comprising returned soldiers to lead them into battle in order to break the strikes and disrupt Spartacist insurgency. The Republic was rocked by chilling excesses of violence, which often claimed the lives of completely innocent bystanders. On 6 December 1918, for no apparent reason, members of the guards fusiliers unit fired on the intersection of the Invalidenstrasse and Chausseestrasse in Berlin and set fire to a no. 32 tram. Twelve people were killed, including the youngest victim, a sixteen-year-old girl. The Freikorps also regarded the suppression of the Bavarian Soviet Republic at the end of April 1919 as a welcome pretext to fire indiscriminately upon civilians who happened to venture out on the streets. The strikes in the Ruhr region were broken with unbelievable brutality. It dawned on the Social Democrats all too late that they had effectively turned the Republic’s most brutal enemies into its guardians. In terms of its approval ratings, the SPD was sitting quite firmly in the saddle. When elections were held for the first time in January 1919 (with a turnout of 83 per cent, a fantastic figure by today’s standards), the Social Democrats were the strongest force with almost 38 per cent of the vote. Their left-wing splinter faction, the USPD, received 7.6 per cent. The liberal parties were the second strongest force polling just under 23 per cent. The conservative DNVP received around 10 per cent of the vote. The Communist Party of Germany (KPD) did not even enter the race as the result would have been nugatory. However, when the newly elected parliament convened for the first time on 6 February, it was forced

Daniela Danz NEUSTART DER MODERNE REBOOTING MODERNITYFOR A CHANGE OF PERSPECTIVE FÜR EINEN WECHSEL DER PERSPEKTIVE

28 WIR DURCHLAUFEN ALLE EINE EXZENTRISCHE BAHN, UND ES IST KEIN ANDERER WEG MÖGLICH VON DER KINDHEIT ZUR VOLLENDUNG. Friedrich Hölderlin Wiederholt sich Weimar? Seit Beginn der 2010er Jahre findet diese bange Frage verstärkt ihren Weg in das öffentliche Gespräch und prägt zunehmend die Wahrnehmung jener Zeit, auf die wir nun, mit dem runden Abstand eines Jahrhunderts, zurückschauen: Den ersten Wiedergänger aus einer von Unmenschlichkeit und millionenfachem Tod überschatteten Vergangenheit erkannten viele in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009, die mahnend an den Börsencrash vom 24. Oktober 1929 erinnerte – und das umso mehr, als sich mit der 2010 auf den Fuß folgenden europäischen Staatsschuldenkrise abzeichnete, dass die Verwerfungen im Finanzsystem durchaus das Potenzial hatten, über persönliche Ersparnisse hinaus ganze Staaten und die Europäische Union in ihrer Existenz zu bedrohen. Die Verunsicherung, die sich aus diesen Erschütterungen ergab, wertet die sozialwissenschaftliche Forschung als eine der Ursachen für die Krise der Demokratie, mit der sich mindestens die europäischen Staaten und die Vereinigten Staaten seit 2015 konfrontiert sehen. Die mit ihr verbundene Renaissance von Autoritarismus und Fremdenfeindlichkeit und der Druck, unter den diese Tendenzen westliche Gesellschaften mit ihren Institutionen setzen, scheinen den beunruhigten Blick zurück in die 1920er Jahre wieder und wieder zu bestätigen. Sind die Überein1 Kundgebung zum Verfassungstag auf dem Theaterplatz vor dem Deutschen Nationaltheater, Weimar, 1924 Rally on the Theaterplatz in front of the German National Theatre in Weimar, 1924

29 stimmungen etwa nicht mit Händen zu greifen, bis hinein ins historische Detail? Ist beispielsweise die »Thüringer Schicksalswahl« vom 10. Februar 1924, bei der sich eine konservative Minderheitsregierung in eine fatale Abhängigkeit von völkischen Parteien begab und so einen Raum öffnete, in dem die NSDAP in den folgenden Jahren Anlauf zur Machtergreifung nehmen konnte, kein unheilvolles Sinnbild für die verfahrenen Zustände der Thüringer Politik 100 Jahre später? Was ist mit all den grauenvollen Nachrichten von Krieg in Europa, mit all dem Leid und all der Zerstörung, durch die wir uns auf unseren Smartphones scrollen? Wird der Stellungskrieg, der sich nicht erst seit dem Überfall Russlands am 24. Februar 2022 in den östlichen Regionen der Ukraine entwickelt, zu einem neuen Verdun – und erinnern seine Toten und Versehrten uns, die wir das Geschehen aus sicherer Entfernung betrachten dürfen, nicht allzu genau an das, was wir aus der Zeit nach dem großen Krieg von 1914 bis 1918 zu kennen meinen? Was ist mit der schreienden Ungerechtigkeit in der Welt, der wachsenden Spaltung zwischen arm und reich, die – immer noch und wieder neu – so karikaturenhafte Züge trägt wie auf den grotesken Bildern eines Otto Dix oder Georg Scholz? Und als wäre all das nicht genug: Waren die 1920er nicht auch eine postpandemische Zeit, gerade wie die unsere, auf der Millionen Tote und die Nachwirkungen einschneidender staatlicher Maßnahmen lasteten? All das drängt sich ins Bild, auch und gerade dann, wenn wir heute warnend »nie wieder« sagen. Zu dem Bild, das sich seit nun eineinhalb Jahrzehnten entwickelt, passt die Kulisse von Rausch und Exzess sehr gut, wie sie – als Beispiel mit der wohl größten Reichweite im deutschsprachigen Raum – Tom Tykwer mit der Serie Babylon Berlin zeichnet: Bilder eines ebenso goldenen wie rußschwarzen, lauten und extremen Lebens; Imaginationen einer sich auflösenden Gesellschaft in der atemlosen Atempause zwischen den beiden großen Kriegen des 20. Jahrhunderts, in die hinein wir Nachrichten von heute als mahnende Überblendungen projizieren. Auch die irritierende Topografie Weimars – jenes eng gerückte Ensemble aus Deutschem Nationaltheater, in dem 1919 die Weimarer Verfassung beschlossen wurde, Bauhaus-Museum, dem nationalsozialistischen Gauforum und der Gedenkstätte Buchenwald – erscheint wie eine Kristallisation solcher Assoziationen; umso mehr, wenn heute wieder an eben diesen historischen Orten gegen den Aufstieg antidemokratischer und rechtsextremer Kräfte demonstriert wird. Aber spricht die Geschichte wirklich eine so plakative, um nicht zu sagen: floskelhafte Sprache? Denn selbstverständlich ist der zivilgesellschaftliche WiderWE ALL TRAVERSE AN ECCENTRIC PATH, AND THERE IS NO OTHER WAY POSSIBLE FROM CHILDHOOD TO COMPLETION [OF LIFE’S COURSE]. Friedrich Hölderlin Is the debacle of the Weimar era repeating itself? Since the beginning of the 2010s, this anxious and somewhat vexed question has found its way into public discourse more prominently and is increasingly shaping our perception and reappraisal of that era a full century later: in the global financial and economic crisis of 2008/2009 that echoed the Wall Street Crash of 24 October 1929, many people recognised the first of many revenants from a past overshadowed by inhumanity and millions of deaths; this stark reminder was all the more worrying on account of the European sovereign debt crisis that followed hard on its heels in 2010 and which, in turn, revealed that the fault lines in the global financial system had the potential to endanger not only personal savings, but also the existence of entire countries, not to mention the fabric of the European Union itself. Sociological research has identified the uncertainty and instability resulting from these economic shockwaves to be one of the primary causes of the crisis of democracy that has confronted European states and the USA since 2015. The concomitant renaissance of authoritarianism coupled with xenophobia and the pressure under which these tendencies put Western democracies and their institutions seem to reconfirm the troubled review of the 1920s at every turn. Are the similarities not palpable, right down to the historical detail? For example, is the “Thuringian watershed election” of 10 February 1924, in which a conservative minority government became fatally dependent on nationalist parties and thus opened up a political vacuum in which the Nazis could start their run up to the seizure of power in the following years, not an ominous, symbolic prefiguration of the muddled state of Thuringian politics a century later? What about the horrific news of war in Europe, with all the suffering and destruction that we scroll through daily on our smartphones? Is the trench warfare that has been unfolding in the eastern regions of Ukraine, not just since Russia’s invasion on 24 February 2022, becoming a new Verdun – and don’t its dead and wounded remind us – allowed as we are to observe the events from a safe distance – all too precisely of what we think we know from the period after the Great War of 1914–1918? What about the blatant injustice in the world, the growing divide between rich and poor, both of which – ever and anew – draw on the kind of caricature-like traits that feature in the grotesque paintings of Otto Dix or Georg Scholz? And as if all that weren’t enough: weren’t the 1920s also a post-pandemic period, just like ours, with millions of deaths and repressive government measures? All of this comes to mind, even and especially when we warn: ‘never again’. The backdrop of intoxi-

30 stand von heute etwas anderes als ein Reenactment anhand alter Schwarz-Weiß-Fotografien, die zum Beispiel die Kundgebung des Reichsbanners am Verfassungstag des Jahres 1924 in Weimar zeigen, und die den Protestszenen unserer Tage so verwirrend ähnlich zu sein scheinen – von den Girlanden an der Theaterfassade, der seltsamen Kleidung der Teilnehmer und dem Umstand, dass die Versammlung praktisch ausschließlich aus Männern besteht, einmal abgesehen. Als gäbe es in Deutschland wirklich noch das, was hinter den alten Fotografien steht, etwa die krasse Armut jener Zeit, die wir zu einem Teil mit passablem Erfolg bekämpft, zu einem anderen Teil in ferne Welten ausgelagert haben. Als hätte unser Staat, als hätten europäische Demokratien keine strukturellen Lehren aus dem Deutschen Oktober und dem Hitlerputsch von 1923, der NS-Diktatur, dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah, der DDR, dem Deutschen Herbst, ja sogar aus den verschiedenen Finanz-, Wirtschafts- und Energiekrisen der letzten Jahre und selbst der Covid19-Pandemie gezogen. Als wären wir nach all dem heute nicht in einer – im doppelten Wortsinn – deutlich besseren Verfassung. Dass die 1920er Jahre als warnendes Beispiel Konjunktur haben, liegt über die skizzierten Ähnlichkeiten hinaus wohl darin begründet, dass wir unsere eigene Zeit zu Recht als Krisenzeit begreifen und dass wir eine Orientierung in ihr suchen. Eine Orientierung, die, damit wir sie als angemessen empfinden, so groß sein muss wie die Sorge um eine Zukunft, die wir mit den nur in großen Linien berechenbaren Veränderungen des Klimas und, damit verbunden, weitreichenden Konsequenzen für die Menschheit belastet haben. Vermutlich ist die historisch verifizierte Geschichte, wie eine moderne Gesellschaft an sich selbst gescheitert ist, mit allen entsetzlichen Folgen, der einzige Anhaltspunkt, der uns dazu wirklich einfällt. So erstarren wir vor der bangen Frage, wie viel »20er« von damals in den »20ern« von heute steckt und was es mit dieser politisch-gesellschaftlichen Parallelwelt auf sich hat, in der auseinanderstrebende Kräfte an Freiheit und Demokratie zerren. Angezogen von der verführerischen Drastik des vermeintlichen historischen Vorbilds vergessen wir leicht, wie verschieden unsere Perspektive von der der Menschen vor 100 Jahren ist. Wenn wir in den 1920er Jahren nach Blaupausen unserer Zeit suchen, sehen wir ein Intermezzo der Freiheit und der Demokratie, das wir nur mit Mühe anders als von seinem dunklen Ende her begreifen können und das deshalb zwangsläufig auf seinen Untergang zuzusteuern scheint. Wir bekommen dabei paradoxerweise nicht einmal die Zumutungen richtig zu fassen, die dieser cation and excess that Tom Tykwer’s Babylon Berlin series delineates, an example with probably the greatest reach in the German-speaking world, coincides well with the images that have been developing for a decade and a half now: images of a life that is as golden as it is soot-black, loud and extreme; imaginings of a disintegrating society in the breathless respite between the two great wars of the twentieth century, into which we project news from today as cautionary superimpositions. Weimar’s perplexing topography – that tightly packed ensemble of the German National Theatre, where the Weimar Constitution was adopted in 1919, the Bauhaus Museum, the Nazi Gau Forum and the Buchenwald Memorial – also appears like a crystallisation of such associations; all the more so today, when demonstrations are once again being held at these very historical sites in protest against the rise of anti-democratic and farright forces. But does history really avail itself of such a strikingly simplistic, not to say clichéd, vernaular? It goes without saying that the resistance of today’s civil society is something other than a re-enactment based on old black and white photographs showing, for example, the Reichsbanner rally on Constitution Day in Weimar in 1924, which seem so confusingly similar to the protest scenes of our day – apart from the garlands on the theatre façade, the strange clothing of the participants and the fact that the gathering consisted almost exclusively of men. As if what actually is behind the scenes of the old photographs really still exists in Germany, such as the abject poverty of that time, which we have partly eradicated with reasonable success and partly outsourced to remote countries. As if our state, as if European democracies had not learnt structural lessons from the German October and the Hitler putsch of 1923, the Nazi dictatorship, the Second World War and the Shoah, the GDR, the German Autumn, even from the various financial, economic and energy crises of recent years and, indeed, the exigencies of the recent Covid-19 pandemic. As if having endured all that our constitutions weren’t in better shape today – in both senses of the word. Beyond the sketched similarities, the fact that the 1920s are still enjoying popular currency as a cautionary tale is probably due to the fact that we rightly see our own era as a time of crisis and that we are seeking some kind of orientation within it. An orientation that, in order for us to perceive it as commensurate, must hold an existential concern for our future, burdened as it is with climate change and, concomitantly, the far-reaching consequences for hu-

31 Neustart der Moderne für viele mit sich brachte – für jene, die sich mit dem Verlust von Privilegien abfinden mussten; für andere, deren alltägliches Leben noch im Takt des 19. Jahrhunderts ablief und die befremdet sahen, was in fernen Städten vor sich ging; für die, an deren Not der Fortschritt nichts änderte. Wir fliegen über ihre Geschichte und sehen Muster, in denen wir uns rasch zurechtfinden, weil sie gut zu unserer eigenen Zukunftsangst passen. So reden wir uns sprichwörtliche 20er Jahre ein, in denen Gut und Böse – chancenlos Gutes und dämonenhaft Böses – eindeutig verteilt sind. 20er Jahre, die uns eine klare Agenda versprechen und die, im Falle des Scheiterns, auch einen Fundus an Opferrollen bereithalten. Beides meinen wir gut brauchen zu können, und die collagenhafte, algorithmisch sortierte Versorgung mit Information, die wir aus einer digital strukturierten Medienwelt beziehen, bestärkt uns in dieser Ansicht. Aber Geschichte wiederholt sich bekanntermaßen nicht, und sie reimt sich auch nur selten; und wenn, dann in reichlich unreinen Reimen. Denn anders als die Gesellschaft der 1920er Jahre kommen wir in Deutschland nicht vom Zusammenbruch einer alten Ordnung her, sondern aus einer Phase der Geschichte, in der nicht wenige das Paradies auf Erden erwartet haben. Bei aller Enttäuschung, die der Euphorie von Wende und Perestroika, dem von Francis Fukuyama manity, all of which are only calculable on a broader global scale. Presumably, the historically-verified narrative of a modern society that failed on its own terms, with all the appalling consequences, is the only salient reference point we can really come up with. So we freeze before the anxious question of how much of the ‘20s’ from back then actually exists in the ‘20s’ of today and what this parallel political and social world is all about, in which divergent forces are clawing away at the fabric of freedom and democracy. Attracted by the seductive graphic vividness of this supposed historical role model, we easily forget how different our perspective is from the people who lived through that era a century ago. When we look to the 1920s for blueprints of our time, we discern an intermezzo of freedom and democracy that we have difficulty understanding other than from its tenebrous, baleful coda and which, therefore, seems to be ineluctably heading for its downfall. Paradoxically, we are not even able to properly grasp the impositions that this reboot of modernity brought with it for many – for those who had to come to terms with the loss of privileges; for others whose everyday lives were still synched to the rhythm of the nineteenth century and who were alienated by what was going on in distant cities; for those whose plight was by no means alleviated by progress. We fleetingly scan their history and see patterns in which we quickly find our bearings because they sit well with our own fears for the future. This is how we convince ourselves of the proverbial 1920s, in which the good and evil binary – hapless good versus demonic evil – is clearly assigned: the 1920s that promise us a clear agenda and, in the event of failure, also provide us with a sense of victimhood, not to mention a set of roles to match. We think we could well do with both, and the collage-like, algorithmically-coded flood of information tailored to our preferences delivered by a digitally-structured media world merely reinforces this view. But as we well know, history does not repeat itself, and rarely does it rhyme; and when it does, it does so in broken metre and stilted rhymes. For unlike 2 Walter Ruttmann, Berlin – Die Sinfonie der Großstadt Fotomontage, 1927 Walter Ruttmann, Berlin – Die Sinfonie der Großstadt Photo montage, 1927

ARM UND REICH THE RICH AND THE POOR

36 If you had walked through the streets of any major German city in the years following the First World War, you could not fail to notice the deep divide in the distribution of wealth: enormous wealth on the one hand contrasted with abject poverty on the other. “Little man, what now?” The writer Hans Fallada’s pointed question about this social predicament was at the centre of political debate. In the 1920s, many artists, who often lived on the breadline themselves, espoused a compassionate view of people on the margins of society. The elderly, beggars and the unemployed often feature in the paintings of Otto Dix, Conrad Felixmüller and George Grosz, who aptly titled one of his works Kein Hahn kräht nach ihnen (No Cockerel Crows For Them). In order to document the extent of “industrial progress”, Felixmüller travelled from Dresden to the Ruhr coalfields in 1920. While there, he drew the hard-working people and their families. The artist experienced at firsthand how workers exchanged their human dignity for a pittance and a life of grime. During the 1920s, artists repeatedly focused on children and their plight. Curt Querner’s Bauernjunge (Peasant Boy), Wilhelm Lachnit’s Schwangeres Proletariermädchen (Pregnant Proletarian Girl) and Conrad Felixmüller’s Zeitungsjunge (Newspaper Boy) lent poignant dignity to a generation that had become disorientated in the midst of a frenzied modernity rife with injustice. Prostitutes, drug addicts, the war disabled, the mentally ill and those at risk of suicide are indicative of the dark side of the “new era” in the works on display. In other works, such as Hainz Hamisch’s Arbeitsloser Hafenarbeiter (Unemployed Dockworker), the general social predicament exacerbated by the global economic crisis is suffused with resentment. Pictures by Georg Scholz and Carl Lohse mercilessly lampoon capitalism as the prevailing mode in society, depicting entrepreneurs – and thus the people on the winning side of the times – as overweight profiteers with ugly, disfigured, porcine faces. | BR Wenn man in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg durch die Straßen deutscher Großstädte lief, konnte einem der tiefe Riss entlang der Wohlstandsverteilung nicht entgehen: Enormer Reichtum auf der einen Seite stand krasser Armut auf der anderen entgegen. »Kleiner Mann, was nun?« – die so von dem Schriftsteller Hans Fallada formulierte soziale Frage stand im Mittelpunkt politischer Debatten. Viele Künstler*innen, die oft selbst ein Leben am Existenzminimum führten, entwickelten in den 1920er Jahren einen mitfühlenden Blick auf die Menschen am Rand der Gesellschaft. Alte Menschen, Bettelnde und Arbeitslose erscheinen vielfach in den Bildern von Otto Dix, Conrad Felixmüller oder George Grosz, der eines seiner Werke mit dem sprechenden Titel Kein Hahn kräht nach ihnen versah. Um die negativen Auswirkungen des »industriellen Fortschritts« zu dokumentieren, reiste Felixmüller 1920 von Dresden aus in die Kohlereviere des Ruhrgebiets. Dort zeichnete er die schwer arbeitenden Menschen und deren Familien. Hautnah erlebte der Künstler, wie Arbeiter*innen ihre Menschenwürde gegen etwas Geld und ein Leben in Schmutz eintauschten. Immer wieder rückten in den 1920er Jahren auch die Kinder und deren Not in den Blick der Künstler*innen. Inmitten einer Ungerechtigkeit produzierenden, rasenden Moderne verliehen Curt Querners Bauernjunge, Wilhelm Lachnits Schwangeres Proletariermädchen und Conrad Felixmüllers Zeitungsjunge einer orientierungslos gewordenen Generation ergreifende Würde. Prostituierte, Drogenabhängige, Kriegskrüppel, psychisch Kranke und Suizidgefährdete weisen in den ausgestellten Werken auf die Schattenseiten der »neuen Zeit« hin. In andere Bilder, wie Hainz Hamischs Arbeitsloser Hafenarbeiter, mischt sich Unmut angesichts der durch die Weltwirtschaftskrise verschärften sozialen Lage. Unverhohlene Kritik am herrschenden Kapitalismus üben Bilder von Georg Scholz und Carl Lohse, die Unternehmer – und damit die auf der Gewinnerseite der Zeit stehenden Menschen – als übergewichtige Profiteure mit einem Gesicht darstellen, das die Züge eines Schweines trägt. | BR

Curt Querner Bauernjunge 1933

38

39 Wilhelm Lachnit Schwangeres Proletariermädchen 1924–1926 Hanna Nagel Das Modell 1929

46 Otto Dix Bettlerin 1924

47 Lea Grundig Die Waschküche 1934 Martha Schrag Das Sterben 1920

48 Eric Johansson Proletarierfamilie 1924 Käthe Kollwitz Brot! 1924 George Grosz Vorm Schaufenster 1924

Benjamin Rux ES LEBE DIE WELT REVOLUTION! LONG LIVE WORLD REVOLUTION! KÜNSTLER*INNEN ZWISCHEN POLITIK UND KUNST NACH DEM ERSTEN WELTKRIEG ARTISTS IN THE FLUX OF POLITICS AND ART AFTER THE FIRST WORLD WAR

122 “We are smashing the myth of apolitical art to smithereens!”1 With a thunderous challenge like this, the Russian poet and futurist Vladimir Mayakovski went into battle against the moribund art scene of his time, which was tame, compliant and ineluctably set within moral boundaries. In the wake of the October Revolution in 1917, he and his artist compatriots had nothing less in mind than the creation of a new vernacular and form for a wholly regenerated society. Precisely a century later, this sentence was emblazoned on the façade of the Dresden University of Fine Arts (fig. 1). For some time now, art2 has been taking a decidedly political stance once more, and so vociferously so that the freedom of art has been declared dead and buried.3 The manifold crises and catastrophes of our time have undoubtedly contributed to this. When art becomes political, this means that the present is perceived by artists as both threatening and painful, but at the same time, as something inherently capable of transformation. The perception of an era coming to an end – late modernism – and the chance of a new beginning, pervades the ether. Just over a century ago, people were charged by a similar attitude to life: coinciding with the First World War and the end of monarchical rule in many countries, old Europe was coming to an end and a new dispensation under the rule of the many mani1 Banner über dem Portal der Hochschule für bildende Künste Dresden, 2018 Banner above the portal of the University of Fine Arts (HfBK) Dresden, 2018 den infrage gestellt und Frauenrechte gestärkt. Doch das Vertrauen in stetigen Fortschritt – einem Grundthema in Thomas Manns 1924 erschienenem Roman Der Zauberberg – schien erschüttert. »Das allgemeine Zeitbewusstsein wandelte sich im Großen erst mit der schweren Erschütterung, die die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges über das Kulturbewusstsein und den Fortschrittsglauben des liberalen Zeitalters brachten«,4 so urteilte der Philosoph Hans-Georg Gadamer rückblickend. In den unwägbaren Zeiten des Übergangs bot sich die Kunst an, Visionen des Neuen zu entwerfen. So hatte sich etwa das 1919 in Weimar gegründete Bauhaus anfänglich nichts Geringeres als den Bau einer neuen Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben. Das von Lyonel Feininger entworfene Signet, eine gotische Kathedrale in prismatischer Brechung, deutete an, dass der Ruf nach Erneuerung ganzheitlich gedacht wurde, die Revolution nicht nur eine politische, sondern auch eine geistige Dimension hatte (Abb. 2). »Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft [...] als kristallines Sinnbild eines neuen Glaubens«,5 umriss Walter Gropius seine Utopie im Bauhaus-Manifest. Das Jahr der Bauhaus-Gründung 1919 begann unter besonderen Vorzeichen. Infolge der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, den Vor- »Wir schlagen den Mythos apolitischer Kunst in Stücke!«1 Mit stürmischen Kampfansagen wie dieser rechnete der russische Dichter und Futurist Wladimir Majakowski mit der Kunst seiner Zeit ab, die sich innerhalb fester moralischer Grenzen zahm und gefällig gab. Im Zuge der Oktoberrevolution 1917 hatten er und seine Künstlerfreunde nichts weniger im Sinn, als Sprache und Form für eine neue Gesellschaft zu entwerfen. Genau 100 Jahre später war der Satz an der Fassade der Dresdner Kunstakademie zu lesen (Abb. 1). Seit einiger Zeit tritt die Kunst2 wieder politisch auf, und zwar so lautstark, dass die Freiheit der Kunst für beerdigt erklärt wurde.3 Die vielen Krisen und Katastrophen unserer Tage haben dazu beigetragen. Wird Kunst politisch, heißt das, dass die Gegenwart von Künstler*innen als bedrohlich und schmerzhaft, gleichzeitig aber auch als veränderbar wahrgenommen wird. Darüber schwebt das Gefühl einer zu Ende gehenden Epoche, der Spätmoderne, und die Chance eines Neubeginns. Vor etwas mehr als 100 Jahren bestimmte ein vergleichbares Lebensgefühl die Menschen: Mit dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Monarchie in vielen Ländern ging das alte Europa unter, ein neues unter der Herrschaft der Vielen erschien als ferne Utopie am Horizont. Die Stunde großer Veränderungen schien gekommen, Herrschaftsverhältnisse wur-

2 Lyonel Feininger, Kathedrale, 1919 Holzschnitt, Kunstsammlungen Chemnitz Lyonel Feininger, Kathedrale, 1919 woodcut, Kunstsammlungen Chemnitz

124 avantgardistischen Künstler*innen, der sich auch in den anderen Sturm-Projekten wie der Sturm-Bühne und der Sturm-Galerie traf, trat hier mit Druckgrafiken in Erscheinung. Ein weitaus sozialrevolutionäreres Pathos entfaltete die von 1911 bis 1932 von Franz Pfemfert herausgegebene Zeitschrift Die Aktion. Das Blatt versammelte von Beginn an expressionistische, antimilitaristische und anarchistische Stimmen aus Literatur und Kunst. Ab 1918 wendete sich die Zeitschrift verstärkt dem Kommunismus zu, der durch eine große Revolution herbeigesehnt wurde. Jeder Ausgabe der zunächst wöchentlich, ab 1919 vierzehntägig erscheinenden Zeitschrift ging eine Druckgrafik voran. 1920 schuf Conrad Felixmüller den Holzschnitt Maidemonstration, der eine Gruppe von Männern zeigt, die einer Fahne mit dem Slogan »Es lebe die Weltrevolution« folgen (Abb. 3). Zu den Künstler*innen, die regelmäßig für Die Aktion Werke schufen, gehörten auch George Grosz, Ludwig Meidner, Max Schwimmer, Georg Tappert und viele andere. Doch zurück zu den überall im Land neu gegründeten linksintellektuellen Kunstkollektiven, die von einer neu anbrechenden Zeit kündeten. Die Sprache der dort zusammentreffenden progressiven Künstler*innen war der Expressionismus, doch auch der Dadaismus und dessen radikale Abrechnung mit der sassination of Rosa Luxemburg and Karl Liebknecht – the leaders of the German Communist Party (KPD) – in January of that year, bloody uprisings ensued in Germany.6 Many artists were now increasingly open to socialist ideas. As early as December 1918, in the course of the November Revolution in Berlin, numerous artists came together to form the November Group, which from then on would represent a consolidated socialist, revolutionary political forum.7 Together with the Workers’ Council for Art, which was led by Gropius, the November Group, which soon had over 170 members, primarily wanted to build a bridge between art and the working people. In many other cities, activist artists’ associations with similar objectives also emerged. The desire for a new beginning is particularly redolent in the titles of the magazines published by these groups, as well as others: Der Anbruch, Neue Erde, Die Erhebung, Das Feuer, Der Morgen, Die Rettung, Revolution, Der Ruf, Das Tribunal or Die rote Erde.8 Unlike these new, rather short-lived publications, the expressionist monthly Der Sturm, which was published by Herwarth Walden in Berlin from 1910 until 1932, was already an established literary institution in the postwar years. A circle of young avantgarde artists, who also met in the other Sturm projects, such as the “Sturm-Bühne” and the “Sturmfested itself as an enticing, palpable utopia on the horizon. The hour of great change seemed to have struck, power relations were called into question and women’s rights were bolstered. However, confidence in constant progress – a fundamental theme in Thomas Mann’s novel The Magic Mountain published in 1924 – seemed shaken. “The general consciousness of the times changed overall only after having absorbed the severe shock that the material battles of the First World War had had on cultural consciousness and the belief in progress of the liberal age”,4 as the philosopher Hans-Georg Gadamer concluded in retrospect. In these imponderable times of transition, art offered itself up as a visionary space and potential for the new. For example, the Bauhaus, founded in Weimar in 1919, initially set out to do nothing less than build a new society. The signet designed by Lyonel Feininger, a Gothic cathedral in prismatic refraction, indicated that the call for renewal was conceived holistically, that the revolution had not only a political but also an intellectual dimension (fig. 2). “Together let us desire, conceive, and create the new structure of the future [...] like the crystal symbol of a new faith”,5 as Walter Gropius put it his utopia in the Bauhaus Manifesto. 1919, the year in which the Bauhaus was founded, began under baleful auspices. In the wake of the assitzenden der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) im Januar des Jahres kam es in Deutschland zu blutigen Aufständen.6 Viele Künstler*innen zeigten sich nun immer offener für sozialistische Ideen. Bereits im Dezember 1918 schlossen sich im Zuge der Novemberrevolution in Berlin zahlreiche Künstler*innen zur Novembergruppe zusammen, die fortan ein starkes sozialrevolutionäres politisches Forum darstellte.7 Gemeinsam mit dem Arbeiterrat für Kunst, der von Gropius geleitet wurde, wollten die bald über 170 Mitglieder der Novembergruppe vor allem eine Brücke zwischen der Kunst und den arbeitenden Menschen schlagen. In vielen anderen Städten entstanden ebenfalls aktivistische Künstlervereinigungen mit analoger Stoßrichtung. Der Wille zu Aufbruch und Neubeginn wird besonders an den Titeln der Zeitschriften deutlich, die von den Gruppen und anderen Akteur*innen herausgegeben wurden: Der Anbruch, Neue Erde, Die Erhebung, Das Feuer, Der Morgen, Die Rettung, Revolution, Der Ruf, Das Tribunal oder Die rote Erde.8 Anders als diese neuen, recht kurzlebigen Blätter war die expressionistische Monatszeitschrift Der Sturm, die von Herwarth Walden von 1910 bis 1932 in Berlin herausgegeben wurde, in den Nachkriegsjahren bereits eine feste Institution. Ein Kreis von jungen

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