Leseprobe

14 wurde der Bevölkerung weit weniger deutlich als in den zerbombten Städten nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Urszene verlorener Kriege, der Einmarsch des Feindes ins eigene Land, war ausgeblieben. Bis auf einige Orte Ostpreußens war der Krieg eine ferne Angelegenheit geblieben. Auch ein Teil der Soldaten hielt sich trotz der zermürbenden Erfahrungen im Stellungskrieg und der unvorstellbaren Verluste für unbesiegt. Zusammengebrochen sei die Front nur wegen der meuternden Kameraden und des ausbleibenden Nachschubs, den die streikenden Arbeiter*innen sabotiert hätten. In ihren Augen waren die Novemberrevolutionär*innen und die aus ihr hervorgegangene Regierung Vaterlandsverräter*innen, die zu verantworten hätten, dass der Tod ihrer nach Millionen zählenden Kameraden nunmehr sinnlos geworden sei. Der Hass, mit der diese noch immer kampfbereite Soldateska nach Hause zurückkehrte, war grenzenlos. Das pazifistische Deutschland war nicht länger das ihre. Wo immer sie konnten, machten sie ihrer Wut auf die untreue Heimat schon auf dem Heimweg in kleineren Scharmützeln mit der Polizei Luft. Viele, die die Materialschlachten des Krieges als »eisenbeladene Tagelöhner des Todes«1 erlebt hatten, waren für ein bürgerliches Leben in einem zivilen Alltag verloren. Zurückgekehrt in die Städte ihrer Jugend, gingen die Überlebenden darin umher wie Fremde, schrieb Erich Maria Remarque und definierte eine »verlorene Generation« der Frontsoldaten: »Gefühllose Tote, die durch einen Trick, einen gefährlichen Zauber noch laufen und töten können.«2 Ausgerechnet diesen erbittertsten Feinden der Republik bot Friedrich Ebert eine Lizenz zum Töten, indem er in seiner Angst vor den umsturzbereiten Kommunist*innen die Reichswehr zur Hilfe im Kampf für Ruhe und Ordnung aufforderte. Diese stellte sogenannte Freikorps aus heimgekehrten Soldaten zusammen, um sie gegen die Streiks und Aufstände der Spartakist*innen ins Feld zu führen. Haarsträubende Gewaltexzesse schockierten die Republik, denen oftmals gänzlich Unbeteiligte zum Opfer fielen. Ohne ersichtlichen Anlass beschossen am 6. Dezember 1918 Gardefüsiliere die Berliner Kreuzung Invaliden-, Ecke Chausseestraße und nahmen eine Straßenbahn der Linie 32 unter Feuer. Zwölf Tote blieben zurück, darunter als jüngstes Opfer ein 16-jähriges Mädchen. Auch die Niederschlagung der Münchner Räterepublik Ende April 1919 nahmen die Freikorps zum willkommenen Anlass, wahllos auf Zivilist*innen zu schießen, die sich auf den Straßen blicken ließen. Die Streiks im Ruhrgebiet wurden mit unfassbarer Brutalität beendet. Zu spät dämmerte es den Sozialdemokrat*innen, dass sie die brutalsten Feinde der Republik zu deren Hütern gemacht hatten. Dabei saß die SPD, was 2 Hyperinflation: Geldscheinbündel sind nur mehr als Bauklötze zu verwenden Hyperinflation: bundles of bank notes are henceforward only useful as building bricks THE WAR IS STILL GOING ON An even greater threat loomed from the right. Alas, the Revolution was a bastard sibling of the lost war. According to the German Army High Command, defeat had not been at the hands of the enemy but perpetrated by their own people. This seemed plausible to many. The fact that the war had really been lost was far less apparent to the people at the time, as opposed to the manifest physical evidence of the bombed and devastated cities after the Second World War. The typical and palpable scenario of a lost war – the invasion of one’s own country by the enemy – had not materialised. Apart from a few places in East Prussia, the war had largely remained a remote affair, the not inconsiderable hardship and privations at home notwithstanding. In spite of the harrowing experiences in the trenches and the unimaginable losses sustained, some of the soldiers considered themselves undefeated. The front had allegedly only collapsed because of mutinous comrades and the lack of supplies, which militant workers on the homefront had sabotaged through their strike action. In their eyes, the November revolutionaries and the government that emerged from their ranks were nothing less than traitors to the Fatherland and responsible for the fact that the deaths of their comrades, numbered in the millions, now seemed like a pointless sacrifice.

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