Leseprobe

13 niemand wusste, was sie bringen würde. Deutschland ohne Kaiser – für viele eine unfassbare, beängstigende Vorstellung. Wer würde jetzt das Zepter in die Hand nehmen? Es war ein gewisser Philipp Scheidemann, Sozialdemokrat, seit knapp fünf Wochen Staatssekretär in einer hastig zusammengestellten Zusammenbruchsregierung, der im Reichstag nach dem Mittagessen aus dem Fenster auf die wartende Masse schaute, den günstigen, geradezu zwingenden Augenblick erkannte und Geschichte schrieb. Er trat auf einen Balkon und rief, in dieser Form unabgesprochen, die Republik aus: »Das Volk hat auf ganzer Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen [...] die Hohenzollern haben abgedankt. Der Abgeordnete Ebert ist zum Reichskanzler ausgerufen und damit beauftragt worden, eine neue Regierung zusammenzustellen.« Nun komme es darauf an, so Scheidemann weiter, für Ruhe, Ordnung und Sicherheit zu sorgen, damit die Deutschen in alle Zukunft stolz sein könnten auf diesen Tag. Nur zwei Stunden danach proklamierte Karl Liebknecht, der spätere Mitgründer der Kommunistischen Partei, die Republik ein zweites Mal – vom anderen Ende der Prachtstraße Unter den Linden aus, von einem Balkon des Stadtschlosses. Diese doppelte Proklamation war mehr als ein ungünstiges Omen. Liebknecht legte den Keim für einen blutigen Zwist, der die eben erst geborene Republik für Jahre erschüttern sollte. Während die Sozialdemokrat*innen die Revolution für siegreich beendet hielten und für einen parlamentarisch gezähmten Kapitalismus mit gerechteren Verteilungsstrukturen plädierten, kämpften die Kommunist*innen für die Fortsetzung der Revolution, die gerade erst begonnen habe. Wohl wissend, dass sie nur eine Minderheit der Arbeiter*innen hinter sich hatten, warben Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg für die gewaltsame Etablierung der »Herrschaft des Proletariats« – selbst für die Arbeiterschaft allerdings in ihrer großen Mehrheit eine Horrorvorstellung. DER KRIEG HÖRT NICHT AUF Noch größere Gefahr drohte von rechts. Unglücklicherweise war die Revolution eine Schwester des verlorenen Krieges. Die Niederlage sei, so verbreitete es die Heeresleitung wider besseren Wissens, nicht vom Feind, sondern vom eigenen Volk herbeigeführt worden. Nicht wenigen Menschen schien das plausibel. Denn dass der Krieg wirklich verloren war, Republic in an impromptu address that had not been previously discussed in that form: “We have triumphed all along the line; the old and rotten has collapsed. Long live the new! Long live the German Republic. [...] Ebert has been appointed Reich Chancellor [...]. The Hohenzollerns have abdicated.” Scheidemann went on to say that it was now imperative to consolidate peace, order and security so that the German people could be proud of this victory in the future. Two hours later, Karl Liebknecht, the future co-founder of the German Communist Party (KPD), proclaimed the Republic for a second time – from a balcony of the City Palace at the other end of the prestigious Unter den Linden boulevard. The fact of this dual proclamation was more than just an unfavourable omen. Liebknecht sowed the seeds of a bloody conflict that would rock the fledgling Republic for years to come. While the Social Democrats considered the Revolution to be victorious and argued in favour of capitalism regulated by parliament with more egalitarian distribution channels, the Communists fought for its continuation, which, in their view, had only just begun. Well aware that they only had a minority of workers behind them, Karl Liebknecht and Rosa Luxemburg still campaigned for the violent establishment of the ‘Rule of the Proletariat’ – itself a horror scenario for the overwhelming majority of the workers. 1 Georg Pahl Bettelnder Kriegsinvalide 1923 Georg Pahl A begging, disabled war veteran 1923

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