Leseprobe

MUSEUM NATURALIENKABINETT WALDENBURG SÄCHSISCHE MUSEEN

4 WUNDERKAMMER WALDENBURG Zur Geschichte des Museums und seiner Sammlungen 26 NEUES NATURALIENKABINETT 30 DER MUSEUMSGRÜNDER Fürst Otto Victor I. von Schönburg- Waldenburg 32 MUSAEUM LINCKIANUM Universaler Wissensanspruch 34 APOTHEKERSCHUBLADEN Originales Sammlungsmobiliar 36 HERBARKASSETTEN FÜR 500 PFLANZENBELEGE Barocke Pflanzenwelten 38 DROGENSCHRANK Ein pharmazeutisches Relikt 40 TELLURIUM Ein frühes Modell des neuen Weltbildes 42 ELEKTRISCHER KANONIER Spielerische Wissenschaft 44 DER NAGER VON WALTSCH Ein urzeitliches Fossil 46 BAROCKE SEESTERNE Lincks Wissen als Erbe INHALT 48 METEORIT VON KRASNOJARSK Eisen, das vom Himmel fiel 50 ROTES BÖTTGERSTEINZEUG Alchemie und Erfindergeist 52 GOLDRUBINGLAS Experimente mit Glas 54 HELU (TONGAISCHER STECKKAMM) Geschenk aus der Südsee 56 DIE GROSSE WABENKRÖTE Ausgeburt der Hölle? 58 TOTENKÖPFCHEN AUS BERNSTEIN Edles Memento mori 60 ANATOMISCHES MODELL EINER SCHWANGEREN FRAU Unter die Haut 62 ANATOMISCHE SAMMLUNG Menschen als Sammlungsobjekte 64 WEIBLICHER FÖTUS MIT FEHLBILDUNGSSYNDROM Zwischen Sensation und Menschenwürde 66 DAS DOPPELKÖPFIGE KALB Eine Sammlungsikone 68 PLAN DES HISTORISCHEN NATURALIENKABINETTS 70 LINCK-ZIMMER 74 XYLOTHEK Holzwelten in Tafelform

76 PRÄPARAT EINES DORSCHS Ein falscher Seeteufel 78 SÁMISCHE TROMMEL Mission, Glaube und Gewalt 80 SIEGELERDEN Medikament und Sammlungsobjekt 82 HISTORISCHES NATURALIENKABINETT 86 MANTELPAVIAN Aus der Wildnis ins Museum 88 DOPPELSPIEGEL VON ANDREAS GÄRTNER Die Sonne bändigen 90 SONNENUHR Zeitmesser mit vielen Seiten 92 DIE MINERALOGISCHE SAMMLUNG Einzigartiges Zeugnis der Mineralogiegeschichte 94 LÜGENSTEINE Wer hat hier gelogen? 96 »MANN MIT PERÜCKE« Menschenbilderstein 98 PFLANZENFOSSIL Aus dem Archiv der Erde 100 DER SARG DER SHEP-EN-HOR Glanzstück des Alten Ägypten 102 MODELL EINES HINDU-TEMPELS Geschenk aus Indien 104 DORNAUSZIEHER Mission in den afrikanischen Kolonien 106 HERBARIUM REICHEL Das Heu der Wissenschaft 108 EDLE CONCHYLIEN Zwischen Natur und Kunst 110 DER LINCKSCHE LUTJAN Die älteste Spiritussammlung der Welt 112 DREIFINGERFAULTIER Ungeboren und ausgestopft 114 PFERDEPRÄPARAT BISCRY Ein blaublütiges Tier 116 VOGELPRÄPARATE Die Sammlung Oberländer 118 Literaturhinweise & Bildnachweise 119 Impressum

WUNDERKAMMER WALDENBURG Zur Geschichte des Museums und seiner Sammlungen

5 Wer außergewöhnlichen Museumsgenuss in Sachsen erleben will, muss nicht zwangsläufig in die großen Metropolen Dresden, Leipzig oder Chemnitz reisen. Ein wahres Juwel befindet sich im ländlichen Raum im Muldental: Wer das Waldenburger Naturalienkabinett betritt und seine Ausstellungsräume auf knarrenden Dielen durchschreitet, kommt aus dem Staunen nicht so leicht heraus. Stets fallen Begriffe und Wendungen wie »Zeitkapsel«, »museales Ufo« oder »Museum im Museum«, die den außergewöhnlichen Charakter des Hauses unterstreichen. Und tatsächlich ist hier ein seltenes Zusammenspiel von Objekten, Präsentation und Gebäude zu bestaunen, das es so kein zweites Mal mehr gibt: Eine große Fülle vielfältigster Exponate aus den Bereichen Wissenschaftsgeschichte, Naturkunde und Kunst werden in einer Darbietung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts in einem weitgehend authentischen Interieur präsentiert. Und als wäre das nicht genug, ist diese Szenografie bis heute in genau dem Gebäude zu erleben, für die es 1845/46 eigens errichtet worden war. In der öffentlichen und fachlichen Wahrnehmung blieb das Naturalienkabinett lange Zeit »unter dem Radar«, nicht zuletzt, weil die Sammlung und ihre Präsentation nicht mit den Maßstäben heutiger Museumspraxis zu messen sind. Nicht selten war zu hören, dass angeblich der »rote Faden« fehlen würde. Doch was lange Zeit als sperriger Charakter oder gar als Mangel gedeutet wurde, ist in Wahrheit eine außerordentliche Qualität, die einen der letzten authentischen Orte zur Erkundung historischer Sammel-, Ausstellungs- und Museumspraxis auszeichnet. Erst in den letzten 15 Jahren ist es dank der unermüdlichen Anstrengungen zahlreicher Wegbegleiter des Waldenburger Museums gelungen, das nationale und internationale Interesse an diesem Haus zu wecken und energisch auf dessen Besonderheiten aufmerksam zu machen. Das Durchhalten hat sich ausgezahlt: Heute gilt uns das Waldenburger Naturalienkabinett als eine der letzten fürstlichen Gelehrtensammlungen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die bewusst an das Phänomen neuzeitlicher Universalsammlungen anschloss. Und »last but not least« begründet das in erHISTORISCHES NATURALIENKABINETT Blick in die überlieferte Sammlungspräsentation im originalen Ausstellungsmobiliar von 1845/46

6 staunlicher Fülle erhaltene Naturalien- und Kunstkabinett der Leipziger Apothekerfamilie Linck aus der Zeit des Barock den heute gut gepflegten Ruf als eine der letzten Wunderkammern Europas. MUSEUMSGRÜNDUNG UND GEBÄUDE Dass das Naturalienkabinett einmal einen solch besonderen Eindruck auf seine Gäste hinterlassen würde, verdankt es den Bemühungen seines Museumsgründers Fürst Otto Victor I. von SchönburgWaldenburg (1785–1859). Seit den 1830er Jahren hatte er sich mit dem Aufbau einer eigenen Sammlung auseinandergesetzt, ließ seit 1838 systematisch Privatsammlungen für Waldenburg begutachten und ankaufen und konnte knapp acht Jahre später, nämlich 1845/46, die Einrichtung des uns heute vertrauten Naturalienkabinetts abschließen. Als Gründungsmotivation wurden immer wieder die Bildungsbestrebungen des Waldenburger Fürsten genannt, die unter anderem Neugründungen wie das Schönburgische Schullehrerseminar im Jahr 1844 nach sich zogen und in die sich ein Museum als öffentliche Bildungsstätte gut einfügte. Es spricht jedoch vieles dafür, das Naturalienkabinett eben nicht nur als von Anfang an öffentliche und bildungsbürgerliche Einrichtung, sondern auch als späten Vertreter fürstlicher Universal- und Kunstsammlungen privaten und repräsentativen Charakters anzusehen, die in einigen Punkten sogar frühneuzeitlichen Mustern folgt. So muss man festhalten, dass es bis zum Zeitpunkt der Erhebung Otto Carl Friedrichs von Schönburg-Waldenburg (1758–1800) in den Fürstenstand im Jahr 1790 keine repräsentative Sammlung in Waldenburg gegeben hatte, wie man sie in vergleichbaren Fürstenhäusern, so etwa im benachbarten Fürstentum Schwarzburg-­ Rudolstadt, mit einem eigenen Naturalienkabinett längst besaß. Auch der anfangs angedachte Ort für die neue Sammlung lässt aufhorchen: Für die neuen Sammlungen ließ Fürst Otto Victor I. von Schönburg-Waldenburg bis September 1840 den Dachboden oberhalb der fürstlichen Reithalle als Museum herrichten und mit eigens angefertigten Vitrinen aus Eichenholz und Rauchglasscheiben bestücken. Die obere Etage der fürstlichen Reithalle als Museumsräume zu nutzen, war schon seit dem 16. Jahrhundert etwa

7 in den Residenzen in München oder in Hessen-Kassel Praxis, insbesondere, da es zunächst an eigenen Sammlungsräumen mangelte. Es waren schlechte klimatische Verhältnisse und Schimmelbefall in der neu eingerichteten Sammlung, die um 1844 zum Entschluss führten, die oberen Räume in der Reithalle aufzugeben und im rechten Winkel dazu ein neues Gebäude zu errichten. Das heute solitär stehende Naturalienkabinett war also einst Teil eines Gebäudeverbundes im MUSEUM NATURALIENKABINETT WALDENBURG Erbaut nach Plänen des Waldenburger Maurermeisters Carl Friedrich Heinsius in den Jahren 1845/46

8 großzügige Wagenremise mit Platz für die fürstlichen Kutschen, weshalb das Gebäude hier ursprünglich zwei große Wagentore besaß, die 1958 durch hohe Galeriefenster ersetzt wurden. Das niedrig gehaltene Zwischengeschoss diente als Lagerstätte für Theaterkulissen und -requisiten der künstlerisch affinen Fürstenfamilie. Das Obergeschoss war vollständig für die Sammlungen des Naturalienkabinetts reserviert, abgesehen von einem kleinen, fast quadratischen Zimmer für den Museumswärter. In der Vergangenheit wurde das Waldenburger Museumsgebäude als eines der ersten öffentlichen Museumsbauten des 19. Jahrhunderts bezeichnet, während der Großteil der bürgerlichen Sammlungen erst ab den 1870er Jahren eigene Museumsgebäude erhielt. Tatsächlich aber muss man das Waldenburger Museum vor allem als einen fürstlichen Multifunktionsbau beschreiben, wofür die Nutzung der drei Ebenen ein eindeutiger Beleg ist. In den Jahren 1936 bis 1938 erfolgte eine Modernisierung des Aufgangs zum historischen Naturalienkabinett: Ein Fliesenspiegel mit keramischen Reliefs von Tieren wie Fischen, Käfern und Säugetieren verleiht dem Treppenhaus bis heute seinen Charakter und lädt Groß und Klein zum Tasten ein. FÜRSTLICHER KOMPLEX AUS MARSTALL, MUSEUM UND REITHALLE Luftaufnahme des ehemaligen Residenzkomplexes, vor 1945 Quartier der fürstlichen Residenz. Wie eng das neue Museumsgebäude mit der Reithalle verbunden war, lässt sich noch heute an den vermauerten und als Wandvitrine kaschierten Durchgängen im Treppenhaus erkennen, durch die man einst vom Museum zu einer kleinen Galerie in der Reithalle gelangen konnte. Im Frühjahr 1845 begann der Museumsneubau unter der Leitung des Waldenburger Maurermeisters Carl Friedrich Heinsius. Das neue Gebäude bestand aus drei Ebenen: Im Erdgeschoss entstand eine

9 Die Arbeiten stammen vom Glauchauer Kunstkeramiker Georg Windisch und weisen auf die größere Gewichtung der naturkundlichen Sammlungsbestände einerseits, andererseits aber auch auf das Traditionsbewusstsein Waldenburgs als Töpferstadt hin. Der Waldenburger Fliesenspiegel ist eine der letzten erhaltenen baugebundenen keramischen Arbeiten Windischs. Immer wieder wurde in der Vergangenheit die Frage nach der Zugänglichkeit des Naturalienkabinetts für die Öffentlichkeit gestellt. Eine Auswertung der bei der Fürstlichen Kanzlei geführten Museumsakten deutet zumindest für die ersten Jahrzehnte seit der Einrichtung eher auf einen auf die Fürstenfamilie und deren Gäste beschränkten Zugang hin. Neben den jeweils amtierenden Museumswärtern und -aufsehern besaßen die Fürsten eigene Schlüssel zu den Ausstellungsräumen und -vitrinen und überwiesen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein immer wieder Sammlungsstücke in das Museum. Mitunter diente das Naturalienkabinett sogar als zeitweiliger Aufbewahrungsort kleinerer Privatkollektionen wie von Otto Sigismund, Prinz von Schönburg-Waldenburg (1866–1936), oder von Prinzessin TREPPENAUFGANG ZUM HISTORISCHEN NATURALIENKABINETT Fliesenspiegel und Reliefs vom Glauchauer Kunstkeramiker Georg Windisch, Fertigstellung 1938

NEUES NATURALIENKABINETT

29 Das Waldenburger Naturalienkabinett gehört zu den ältesten und letzten Kabinetten seiner Art in Europa. Seit seiner Einrichtung 1845/46 blieb es als Historisches Naturalienkabinett nahezu unverändert erhalten und gilt heute als »Museum im Museum«. Wertvoller Kern der Sammlung ist das barocke Naturalien- und Kunstkabinett der Leipziger Apothekerfamilie Linck. Das Neue Naturalienkabinett beleuchtet erstmals die facettenreiche Museumsgeschichte. Anhand ausgewählter singulärer Sammlungsobjekte des Musaeum Linckianum wird der universale Wissensanspruch und Erkenntniswillen der frühen Aufklärung spielerisch und gut verständlich vermittelt.

DER MUSEUMSGRÜNDER Fürst Otto Victor I. von Schönburg-Waldenburg 1

31 BRONZEBÜSTE DES FÜRSTEN OTTO VICTOR I. VON SCHÖNBURG-WALDENBURG Entwurf: Hermann Hultzsch, Dresden, 1879; Ausführung: Gießerei Christoph Albert Bierling, Dresden 1880; Bronze, gegossen und ziseliert; Höhe: 110 cm; Gewicht: 85 kg Am 23. April 1880 wurde im Lustgarten der Residenzstadt Waldenburg das Denkmal zu Ehren des Museumsgründers und zweiten Waldenburger Fürsten enthüllt. Auf einem hohen Sockel aus Rochlitzer Porphyr und weißem Sandstein erhob sich die Bronzebüste Fürst Otto Victors I. von SchönburgWaldenburg, die vom renommierten Dresdener Bildhauer Hermann Hultzsch (1837–1905) modelliert und von der Bronzegießerei Bierling gegossen wurde. Nach Beginn der sowjetischen Besatzungszeit wurde das Denkmal auf Anordnung der lokalen deutschen Behörde als Relikt der feudalen Vergangenheit Waldenburgs abgerissen. Der Waldenburger Klempnermeister Ernst Schubert jedoch rettete die Büste vor dem Einschmelzen, indem er sie eingemauert in seiner Werkstatt versteckt hielt. 2011 wurde die Büste von Nachfahren Schuberts an das Museum übergeben.

HERBARKASSETTEN FÜR 500 PFLANZENBELEGE Barocke Pflanzenwelten 4

37 Die Leipziger Apotheker hatten die Verpflichtung, den Medizinstudenten der Universität Leipzig jährlich Pflanzenbelege zur Bestimmung vorzulegen. In diesen repräsentativen Buchkassetten befand sich ein für diesen Zweck angelegtes großformatiges Herbarium vivum, also ein Vorlegeherbar zu eigens dafür gesammelten Pflanzen, das alphabetisch geordnet und nach dem System des Naturforschers Carl von Linné (1707–1778) bestimmt wurde. Das Herbar umfasst noch heute rund 500 originale Pflanzenbelege. HERBARKASSETTEN FÜR EIN HERBARIUM VIVUM Deutschland, um 1700; Holz, Leder, Papier; Linck-Sammlung; Höhe: 52 cm Die Lehrveranstaltungen waren anfangs mit üppigen Gelagen verbunden, die die Apotheker zu finanzieren hatten. Später waren die Apotheker aufgrund der hohen Bewirtungskosten von der Pflicht zur Verköstigung der Studenten entbunden, und die Unterweisungen fanden im Botanischen Garten der Universität Leipzig statt.

DROGENSCHRANK Ein pharmazeutisches Relikt 5

39 Das kleine Schränkchen ist eines der wenigen erhaltenen Möbelstücke aus der Linck-Sammlung. Seine citringelbe und mennigerote Bemalung weisen es als Einrichtungsstück der Apotheke aus. In sieben Schüben mit hölzernen Knäufen – einer ist als Doppelschublade gestaltet – befinden sich die originalen Pappschachteln und Gläser mit Chemikalienproben und Drogen, Belege von Pflanzenteilen wie Beeren, Rinden und Wurzeln, aber auch Gummi und Harze. DROGENSCHRANK Leipzig (?), erstes Viertel 18. Jahrhundert; Fichtenholz, gefasst in citringelb und mennigerot; Linck-Sammlung; Höhe: 68 cm Dabei handelt es sich um pharmakognostische Grundstoffe, aus denen Arzneimittel gefertigt, die aber auch zum Sammlungsbestand gezählt wurden. Das belegt, wie eng Apothekerpraxis und wissenschaftliche Sammlung zusammenhingen. Die gesamte Spezialsammlung umfasste laut historischem Sammlungsverzeichnis einst 27 Schubladen, weshalb es weiteres Mobiliar wie dieses Schränkchen gegeben haben muss.

ANATOMISCHE SAMMLUNG Menschen als Sammlungsobjekte 17

63 Menschliche Körperteile, sogenannte Anatomica, waren ein wesentlicher Bestandteil der Kunst- und Wunderkammern des 16. bis 18. Jahrhunderts. Die Lincks hatten gute Kontakte zu den praktizierenden Ärzten in Leipzig und kamen daher leicht in den Besitz dieser speziellen Objekte. Ähnlich wie bei den Dingen der Natur und Wissenschaft verfolgten sie mit dieser speziellen Sammlung mehrere Ziele. Zum einen versuchten sie systematische Gruppen zu bilden, z. B. eine möglichst vollständige Entwicklungsreihe eines menschlichen Embryos bzw. Fötus. Zum anderen gelangten auch Einzelobjekte mit außergewöhnlichen, nicht erklärbaren Fehlbildungen im 18. Jahrhundert in das Naturalienkabinett – als studierenswerte Ausnahmen von der Regel und als Forschungsgegenstände, um die Ursachen für Leid, Krankheit und Tod auch wissenschaftlich beschreiben zu können. Die Sammlung umfasst sowohl Alkoholpräparate als auch Skelette von Kindern und Erwachsenen. SKELETTE AUS DER SAMMLUNG VON HUMANPRÄPARATEN Präpariert in Deutschland und den Niederlanden, 18. Jahrhundert; Linck-Sammlung

WEIBLICHER FÖTUS MIT FEHLBILDUNGSSYNDROM Zwischen Sensation und Menschenwürde 18

65 Im Jahr 1735 wurde dieses Kind in Taucha bei Leipzig im letzten Schwangerschaftsdrittel geboren. Der herbeigerufene Leipziger Stadtarzt Johann Gottlieb Friderici (1693–1749) untersuchte das Kind, konnte das »hahnartige« Äußere aber nicht erklären. Im Laufe der Zeit wurde der Fötus als »Hühnermensch von Taucha« bezeichnet. Erst mehr als 250 Jahre nach seiner Geburt gelang im Jahr 1994 mit modernen Methoden der Nachweis, dass ein Defekt auf dem 17. Chromosom für diese Fehlbildung verantwortlich war. Es handelt sich um den weltweit ersten und einzigen Beleg dafür und macht es zu einem bedeutenden Zeugnis der Wissenschaftsgeschichte. Bis heute halten sich Spekulationen um weitere mögliche genetische Defekte. Selbst Parawissenschaftler hatten sich zeitweise mit dem Präparat befasst, die in dem Kind eine Kreuzung aus Menschen und Außerirdischen vermuteten. Heute steht der ethische Umgang mit dem verstorbenen Kind im Vordergrund. Versuche, die Familie des Kindes anhand von historischen Quellen zu rekonstruieren, verliefen bisher ohne Erfolg. WEIBLICHER FÖTUS MIT FEHLBILDUNGSSYNDROM Geboren 1735 in Taucha bei Leipzig; Alkoholpräparat, präpariert von Johann Gottlieb Friderici, Leipzig, 1735; Humanpräparat, Spir as, Schweinsblase, Siegellack; Linck-Sammlung; Höhe des Glases: 35 cm

DAS DOPPELKÖPFIGE KALB Eine Sammlungsikone 19

67 Mit kaum einem anderen Sammlungsstück wird das Naturalienkabinett Waldenburg so sehr verbunden wie mit dem Stopfpräparat eines Kalbes mit zwei Köpfen. Auf einem grün gestrichenen Türbrett steht das Kälbchen mit zwei Köpfen, fast erhaben auf einer künstlich gefertigten, grauen Steinstufe. Das lange mit der barocken Linck-Sammlung in Verbindung gebrachte Präparat wurde jedoch erst zu DDR-Zeiten hergestellt und in die Sammlung aufgenommen. Damals lag der Fokus der Sammlungsentwicklung stark auf heimatkundlichen Aktivitäten, und bis in die 1990er Jahre wuchs die Anzahl fehlgebildeter Kälbchen auf insgesamt sechs Präparate an. Die meisten von ihnen stammen aus Ställen in der näheren Umgebung Waldenburgs. Diese besonderen Präparate festigten lange Zeit den Ruf des Museums als vermeintliches »Gruselkabinett«, und das Kälbchen mit zwei Köpfen avancierte zu einem eher fragwürdigen Markenzeichen. KALB MIT ZWEI KÖPFEN (SOGENANNTER DICEPHALUS) Stopfpräparat auf Felsenimitat, präpariert in Sachsen um 1960/1970; Länge: 86 cm, Höhe: 77 cm

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HISTORISCHES NATURALIENKABINETT

85 Das Historische Naturalienkabinett in der zweiten Etage bildet das Herzstück des Museums. Seit fast 180 Jahren besteht dieses einzigartige Raumensemble aus sechs Enfiladen und überbordend gefüllten Vitrinen als »Museum im Museum« in der historischen Anmutung von 1845/46 nahezu unverändert fort. Die hier erlebbare Mischung aus bürgerlicher Gelehrten-Sammlung der Leipziger Apothekerfamilie Linck aus der Barockzeit mit einer fürstlichen Lehrsammlung des 19. Jahrhunderts ist in Deutschland einzigartig. Bis 1945 kamen weitere Konvolute von Naturalien und Ethnografica hinzu, die in die vorhandene historische Präsentation unauffällig integriert wurden.

MANTELPAVIAN Aus der Wildnis ins Museum 24

87 Mit großen Augen, aufgerissenem Maul und spitzen Zähnen blickt dieser Mantelpavian ins Kabinett. Er wurde wie auch die anderen Präparate von Antilopen, Büffeln, Geiern und Krokodilen in den deutschen Kolonien Afrikas erlegt. Insbesondere Fürst Otto Viktor II. von SchönburgWaldenburg unternahm in den Jahren 1907 bis 1909 derartige fürstliche Bildungs- und Jagdreisen. Oft reiste ein Präparator mit, denn die erste Bearbeitung des erlegten Wildes musste unmittelbar vor Ort erfolgen. Die Bälger wurden dann nach Berlin zum königlichen Hofpräparator Otto Bock gesandt. Der Pavian wurde wie zahlreiche weitere Präparate afrikanischen Kleinwilds nach lebensnahen Studien ausgestopft und auf eine künstliche Steinstufe gesetzt, um die »ungezähmte Wildheit« der afrikanischen Natur zu symbolisieren. Damals moderne Glasaugen verliehen dem Präparat eine Lebendigkeit, welche früher wie heute fasziniert. MANTELPAVIAN (PAPIO HAMATRYAS) Erlegt 1907 in Abessinien (heute: Äthiopien/Afrika) durch Fürst Otto Viktor II. von Schönburg-Waldenburg, präpariert 1908 durch Otto Bock, Berlin; Präparat, künstliche Steinstufe; Höhe des Präparats: 90 cm

DOPPELSPIEGEL VON ANDREAS GÄRTNER Die Sonne bändigen 25

89 Schon in der Antike hatte man erkannt, dass sich Hohlspiegel zur Erzeugung von Wärme eignen. Im 17. Jahrhundert beschäftigten sich zahlreiche Erfinder mit Sonnenenergie und experimentierten mit Licht. Unter ihnen stach der Dresdener Modellmeister und Hofmechanikus Andreas Gärtner (1654–1727) hervor, der zum Ende des 17. Jahrhunderts Brennspiegel fertigte, zu denen dieser Doppelspiegel mit zwei verschieden stark gekrümmten Seiten gehört. Während mit der sehr stark gekrümmten Seite hohe Temperaturen erzeugt werden konnten, mit denen sich sogar Gesteine schmelzen ließen, produzierte die weniger gekrümmte Seite niedrigere Temperaturen. Laut Überlieferung wurden sie für therapeutische Wärmeanwendungen etwa zur Behandlung von Rheuma oder Gicht genutzt. Johann Heinrich Linck den Älteren faszinierte die hohe Energie, die sich mit diesem vergoldeten Spiegel von Gärtner erzeugen ließ. 1727 schrieb Linck, dass er »nur durch Vorhalten von glühender Kohle und Sonne auf eine ziemlich weite Distanz ein Licht« anzünden könne. DOPPELSPIEGEL VON ANDREAS GÄRTNER Dresden, vor 1727; Lindenholz, gebeizt und polimentvergoldet; Linck-Sammlung; Höhe: 175 cm, Durchmesser: 98 cm

PFLANZENFOSSIL Aus dem Archiv der Erde 30

99 Pflanzenfossilien sind einzigartige Dokumente aus dem Archiv der Erde, die über weit zurückliegende Zeiträume der Erdgeschichte berichten. Dieses Pflanzenfossil stammt von dem Farnsamer Neurocallipteris neuropteroides. Das Stück ist einer der ältesten noch bestimmbaren und in einer Ausstellung präsentierten sächsischen Fossilienfunde. Obwohl er über 295 Millionen Jahre alt ist, scheint sein in Lebenddarstellung erhaltenes Laub immer noch in Grüntönen zu strahlen. Es handelt sich jedoch nicht um den Pflanzenfarbstoff Chlorophyll. Die Farbe verdankt sich vielmehr der Oberflächenpatina, welche von einem komplexen Mineral der Chlorit-Gruppe bestimmt wird. Diese Erhaltungsform, welche die Fossilien im hellen Aschentuff mit einer grünen Oberfläche zeigt, hat einen hohen Wiedererkennungswert und ist bezeichnend für den Fundort Reinsdorf in Westsachsen. VERSTEINERTER FARNSAMER Gefunden um 1757, Reinsdorf bei Zwickau; Fossil auf Aschentuff; ab 1757 Sammlung Michael Zenner, Reinsdorf bei Zwickau, entstanden vor ca. 295 Millionen Jahren; Linck-Sammlung; Plattenhöhe: 2 cm

DER SARG DER SHEP-EN-HOR Glanzstück des Alten Ägypten 31

101 Der mit Schriftzeichen und dem Antlitz einer Frau reich gestaltete Sarg gehört der Mumie Schep-en-­ Hor, was »edle Herrin des Hauses« bedeutet. Im Dekorationsprogramm des Sarges ist die Verstorbene in zwei Szenen ihrer Reise ins Jenseits zu entdecken. Die erste Szene gilt dem Wiegen ihres Herzens mit der Maat-­ Feder, die zweite Szene zeigt sie vor dem Göttergericht, bei dem Osiris über ihren Lebenswandel urteilt. Bereits einige Jahre hatte der Museumsgründer Fürst Otto Victor I. nach einer Mumie für sein Kabinett gesucht, bis ihm 1846 der Kauf gelang. Die Annahme, es handle sich um eine 17-jährige Priesterin, ist heute nicht mehr zu halten. Die Echtheit der Mumie hingegen konnte 1976 durch eine Röntgenaufnahme zweifelsfrei bestätigt werden. Seit 1908 ruht die Mumie mit geöffnetem Sargdeckel in einem schützenden Glassarg auf sechs Löwentatzen, der nach einem Entwurf von Fürst Otto Viktor II. gefertigt wurde. MUMIE UND SARG IM GLASSARG Mumie und Sarg: Theben (Asasif?)/Ägypten, 650–625 v. Chr., Humanpräparat, Binden aus Byssusleinwand, Holz, bemalt und gefirnist; Glassarg: Waldenburg 1908, Eichenholz, Glas; Länge des Sarges: 179 cm

HERBARIUM REICHEL Das Heu der Wissenschaft 34

107 Diese Schrankvitrine beherbergt 64 sorgfältig geschnürte Pappbände. Die darin enthaltenen insgesamt 7 843 Papierbögen mit Pflanzenbelegen bilden das Herbarium des Apothekers Carl Ferdinand Reichel (1800–1860), der den Schrank samt Inhalt 1843 nach Waldenburg verkaufte. Auf den Rücken der 64 Bände befindet sich jeweils eine zarte Beschriftung, die die Pflanzenbelege nach Geschlechtsmerkmalen ordnet und so den Umgang mit der umfassenden Sammlung erleichtert. Das Herbar hat einen enormen Wert: Neben Holotypen, also Belegen zur Erstbeschreibung von Arten, sind darin auch Sammlungseinträge berühmter Forscher, angeblich auch von Alexander von Humboldt (1769– 1859). Das Herbar umfasst zudem heute ausgestorbene Pflanzen und ist deshalb ein höchst wertvolles Archiv, mit dem sich Veränderungen der Flora weltweit nachvollziehen lassen. Die heimischen und exotischen Pflanzenbelege wurden nicht nur von Reichel selbst, sondern auch von vielen in Tauschvereinen organisierten Sammlern aus aller Welt zusammengetragen. SAMMLUNGSSCHRANK MIT HERBARIUM REICHEL Schrank: Deutschland, um 1800; Holz; Höhe: 230 cm; Herbarium Reichel: Pappe, Papier, Stoff, getrocknete Pflanzenteile; Holz; Höhe der Bände: 37,5 cm

EDLE CONCHYLIEN Zwischen Natur und Kunst 35

109 Im 17. Jahrhundert wurden aus dem Indopazifik sogenannte Conchylien, also Schalen und Gehäuse von Schnecken und Muscheln, in großem Maßstab nach Europa importiert. Besonders das Gehäuse des Nautilus mit seiner gestreiften Oberfläche (Ostracum) eignete sich für die kunstvolle Bearbeitung: Die Schale wurde mit einer Wachsschicht versehen, die dem gewünschten Dekor entsprach. Ein Säurebad entfernte die beiden oberen Schichten (Periostracum und Ostracum) bis auf die schimmernde Perlmuttschicht. Solche bearbeiteten NautilusGehäuse wurden mit Goldschmiedearbeiten zusätzlich aufgewertet und waren in europäischen Kunstkammern begehrt. Mitunter gravierte man auch ein Motiv in die Schale und rieb dieses mit Tusche aus, sodass die Darstellung wie ein Kupferstich wirkte. Die Waldenburger Conchylien stammen überwiegend aus der Linck-Sammlung, ihre Dekore zeigen chinoise Motive, holländische Alltagsszenen und fabelhafte Wasserwesen, die auf den ursprünglichen Lebensraum der Schalentiere verweisen. SIEBEN KUNSTVOLL BEARBEITETE CONCHYLIEN Gesammelt: Indopazifik, gestaltet: Niederlande, vor 1783; Gehäuse, geätzt, geschnitten oder graviert; Linck-Sammlung; Breite: zwischen 7,5 und 18 cm

ISBN 978-3-95498-828-0

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