› 22 ‹ Man kenne die Kindheit nicht, behauptete Jean-Jacques Rousseau 1762 in Émile, ou De l’éducation. Immer habe man »den Erwachsenen im Kinde« gesucht, aber nie gefragt, »was es ist, ehe es ein Erwachsener wird«.1 Émile, der fiktive Zögling Rousseaus, ist das Kind reicher Eltern, doch bleibt offen, ob bürgerlichen oder adligen Standes. An Kinder speziell des Adels dachte Rousseau also nicht, auch wenn ein Fürst wie Leopold III. Franz Friedrich von Anhalt-Dessau, auf dessen Kunstbesitz ein Gutteil dieser Ausstellung zurückgeht, sehr wohl an Rousseau dachte, als er vor genau 250 Jahren eine eigene Erziehungsanstalt gründete, das zum fünften Geburtstag seines Sohnes eröffnete Philanthropin.2 In Paris suchte das Dessauer Fürstenpaar 1775 sogar den Autor des Émile, »arm und verlassen«, unter einem Vorwand in seiner Wohnung auf.3 Fürstin Louise Henriette versicherte Rousseau bei dieser Begegnung, der Erbprinz ( 12) würde am Philantropin »nach seinem Plane« erzogen.4 Allerdings stand das Erziehungsziel Rousseaus, ein Kind das »Leben als Mensch« zu lehren und es keinesfalls für eine bestimmte Funktion vorzubereiten, in gewissem Widerspruch zu dem der Erziehung eines Prinzen, dessen Bestimmung von Geburt an feststand.5 In Voltaires kurz nach Erscheinen des Émile an die Gothaer Herzogin Luise Dorothea geschickter Warnung davor, »jemals eins ihrer prinzlichen Kinder durch diesen Verrückten Jean Jacques Rousseau erziehen zu lassen«, lag deshalb mehr als nur Missgunst.6 Mehr als die Hälfte der Bilder in dieser Ausstellung sind Porträts von Prinzessinnen und Prinzen, von Söhnen und Töchtern großer und kleiner Herrscherhäuser und des nicht regierenden Adels. Und das, obwohl der adlige Bevölkerungsanteil verschwindend gering war: Im statistisch besser erfassten Frankreich betrug dieser Anteil zur Zeit Rousseaus kaum anderthalb Prozent, während die bourgeoisie im Sinne des Großbürgertums acht Prozent der Bevölkerung stellte, mehr als das Fünffache; zusammen mit dem, was wir heute als bürgerliche Mittelschicht bezeichnen würden, machte das Bürgertum im heutigen Verständnis sogar ein Drittel oder mehr der Einwohner zumindest in den größeren Städten aus.7 Für ein Kind von adligem Stand bestanden also viel größere Chancen, porträtiert zu werden, als für ein bürgerliches, auch wenn die Ausstellung zu ihrem Ende hin die zunehmende, spätestens zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr zu übersehene Umkehrung dieser Relation zugunsten der Kinder des Bürgertums spiegelt. 1 Rousseau 1963, S. 8. 2 Vgl. Hirsch 2008 (die Prägung durch Rousseau relativierend S. 42, 54). 3 Geyer-Kordesch 2007, S. 235 (16. Oktober 1775). 4 Ebd., S. 234 (16. Oktober 1775). 5 Rousseau 1963, S. 17. Vgl. Berger 2005, S. 212; Orrock 2019, bes. S. 24. 6 Voltaire an Luise Dorothea von Sachsen-Gotha-Altenburg, 2. August 1762, zitiert nach Raschke 1998, S. 215. 7 Vgl. Dufraisse 1989, bes. S. 293. Gerrit Walczak Der kleine Prinz und seine Geschwister: Über das dynastische Kinderporträt
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